Grenzwärts
gesiegt, und deshalb wurde die Tanzschule »La Habanera« genannt, obwohl sie von einem Ehepaar aus Chile gegründet worden war.
Enrique und Gloria da Silva mussten, nachdem zwei ihrer Söhne und die einzige Tochter brutal ermordet worden waren, vor der putschenden Soldateska des Generals Augusto Pinochet ins Exil gehen. In der DDR hatten sie, wie viele Chilenen damals, dankbar Zuflucht gefunden, doch nun, nach der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik, fürchteten sie, bald ausgewiesen zu werden.
Seit drei Jahren saßen die da Silvas praktisch auf gepackten Koffern.
»Aber wir machen weiter, solange man uns lässt«, lächelte Señora da Silva und bat den Oberkommissar in den großen Ballsaal hinein. »Wissen Sie schon, was Sie lernen möchten? Ansonsten würde ich Ihnen anbieten, unseren Schnupperkurs zu besuchen, da haben wir noch ein paar Plätze frei.«
»Nein, danke, aber ich war schon mal hier.« Schwartz sah sich um. Wie lange war das her. Und noch immer roch es nach Schweiß und Bohnerwachs, eine ganz bestimmte Sorte, damit das Parkett nicht zu rutschig wurde. An den Wänden hingen hohe Spiegel in üppig verzierten Goldrahmen, und wie früher bauschten sich an den geöffneten Fenstern die Vorhänge aus blickdichtem Leinen.
Das »La Habanera« war eine Institution in Görlitz, ein Fenster zur Welt in der kleinen, engen DDR -Provinz: Hier konnte man Südamerika spüren, argentinische Leidenschaft, die Grandezza Spaniens, das heiße Flair der Karibik.
»Sie waren schon mal bei uns?« Señora da Silva lächelte. Alt war sie geworden, eine kleine, drahtige, aber immer noch betörend schöne Frau mit wachen Augen und einem grauen Dutt. Sie bewegte sich sehr gerade und graziös wie eine Ballerina, den Kopf hocherhoben auf einem langen Hals.
Ihr Mann dagegen wirkte wie ein argentinischer Gaucho, klein, etwas untersetzt, mit einem beeindruckenden Schnurrbart. Früher musste er eine politische Größe gewesen sein, denn er kannte den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, Luis Corvalán, höchstpersönlich. Und als Corvalán 1977 die DDR besuchte, kam er auch ins »La Habanera« nach Görlitz. Hunderte von Menschen drängten sich im Ballsaal der Tanzschule, Tausende hatten sich auf dem Obermarkt versammelt und riefen den Schlachtruf der Unidad Popular: Venceremos – wir werden siegen!
»Vor sechzehn Jahren«, sagte Schwartz, »erinnern Sie sich? Ich habe damals den Solidaritätsbasar für die FDJ organisiert. Auf dem Corvalán seinen Schal zerschnitt!« Die einzelnen Stücke wurden zugunsten des notleidenden chilenischen Volkes versteigert, und so mancher Görlitzer hatte damals seinen Sparstrumpf geplündert, um einen Zipfel von Corvaláns Schal zu ergattern.
»Stimmt, ich erinnere mich«, nickte Señora da Silva versonnen und sah Schwartz dann vorwurfsvoll an. »Aber tanzen gelernt haben Sie nicht bei uns!«
»Nicht bei Ihnen und auch sonst nirgendwo«, bedauerte Schwartz und hob die Schultern. »Leider.«
»Das lässt sich nachholen«, lockte die Señora, doch Schwartz winkte ab.
»Nicht heute. Ich bin beruflich hier.« Er zeigte ihr seinen Ausweis und stellte sich vor.
»Die Kriminalpolizei«, sagte Señora da Silva beeindruckt, »war bestimmt noch nie hier.«
»Privat schon«, widersprach Schwartz, »ein Kommissar der hiesigen KPI ist ein Schüler von Ihnen. Dienstags, der Spätnachmittagskurs. Tango für Anfänger.«
»Tatsächlich?« Die Señora sah fragend auf. »Wie heißt denn der Mann?«
»Klaus Piontek.«
»Ach, der Klaus!« Sie lachte. »Warum sagen Sie das nicht gleich! Der Klaus und sein Sohn!«
»Tobias Piontek macht hier auch einen Kurs?«
»Nicht mehr, was sehr schade ist«, antwortete die Señora. »Der Tobi hat Talent. Jedenfalls mehr«, kicherte sie hinter hervorgehaltener Hand, »als sein Vater. Sie hatten sich beide mit ihren Freundinnen bei uns angemeldet …«
»Mit ihren Freundinnen?« Schwartz stutzte. »Aber am 14. September war der Klaus Piontek doch allein hier. Oder?«
»Wenn es ein Dienstag war, ja«, lächelte die Señora. »Dienstags kommt er immer allein. Er lernt heimlich Tango. Soll eine Überraschung werden. Ursula wird im November fünfzig.«
»Ursula wird fünfzig«, echote Schwartz. »Ursula Kuhnt, nehme ich an.«
»Ja«, nickte die Señora, »warum interessiert Sie das?«
»Ich ermittle in einem Mordfall«, erklärte Schwartz.
»Jesus«, entfuhr es ihr. »Etwa einer unserer Gäste?«
»Das weiß ich noch nicht.
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