Grenzwärts
ihren Untersuchungen hatten Tobi und Klaus Piontek das Vorleben Kuhnts gründlich unter die Lupe genommen, mit alten Freunden und Kollegen gesprochen sowie das Grenzschutzamt Pirna kontaktiert, um Näheres über die Korruptionsvorwürfe gegen Kuhnt zu erfahren. Dabei hatten sie auch Kopien der Parästhesieanamnese angefordert, was nichts anderes bedeutete, als dass sie um Kuhnts gelähmte rechte Hand wussten.
Schwartz lehnte sich zurück und massierte sich die Stirn. Warum aber hatten sie dann ihm gegenüber so ahnungslos getan? Und warum hatten sie dieses ganz wesentliche Detail in ihrem Abschlussbericht völlig unerwähnt gelassen?
Wen decken die?, überlegte Schwartz. Wen wollen sie schützen? – Und warum?
Selbstmord war praktisch. Ein Freitod zog keine weitergehenden Ermittlungen nach sich, man konnte den Fall abschließen, ohne befürchten zu müssen, dass sich übergeordnete Stellen einschalteten. Die Staatsanwaltschaft blieb außen vor, und alle waren zufrieden.
Schwartz betrachtete Kuhnts angeblichen Abschiedsbrief. »Verzeiht mir!« Schrifttyp Courier, das konnte mit jeder Maschine geschrieben worden sein.
Schwartz setzte sich an die Maschine im Büro und begann zu tippen: Verzeiht mir – Ausrufezeichen. Dann drückte er die Taste der Sprechanlage.
»Vicky?«
»Ja?«, kam es fragend aus dem Lautsprecher.
»Kommen Sie bitte mal!«
Man hörte ein genervtes Stöhnen. Vermutlich lackierte sich die fesche Vicky gerade die Fingernägel. »Was ist denn?«
»Kommen Sie her, dann erfahren Sie’s.« Schwartz griff nach einem Stapel Telefonbücher und zog das von Zittau heraus.
»Kuhnt, Kuhnt, Kuhnt …«, murmelte er. Es gab unendlich viele Kuhnts. Aber nicht in Rosenthal, da gab es nur »Jochen und Ursula, Am Hang 10« – das mussten sie sein.
Schwartz griff zum Telefon, als Vicky hereinstöckelte.
»Also ich finde das nicht gut, dass Sie den Klaus einfach so rausgeschmissen haben. Wollt ich nur mal sagen.«
»Ich finde das auch nicht gut«, beteuerte Schwartz, »glauben Sie mir.« Er zog den getippten Bogen aus der Schreibmaschine und gab Kuhnts angeblichen Abschiedsbrief dazu. »Das muss zur KT . Ich brauche eine Schriftanalyse. Und zwar zügig.«
Vicky nahm die beiden Bögen und wollte wortlos gehen, als er sie noch mal zurückrief.
»Ach, Vicky!«
»Ja?« Sie drehte sich um.
»Falls die beiden Bögen mit ein und derselben Maschine getippt worden sind, was ich nicht hoffe, sollen mich die Kriminaltechniker sofort anrufen, hören Sie? Sofort!« Er schrieb eine Nummer auf einen Zettel und gab ihn Vicky. »Falls ich hier nicht erreichbar bin, auch über Funk, klar? Das ist meine Nummer.«
»Ja ja, Chef, geht heute noch raus.«
»Nein, Vicky«, sagte Schwartz eindringlich. »Nicht heute noch, sondern umgehend.«
Er nahm den Hörer vom Telefon und rief Ursula Kuhnt an. Aber dort ging nur ein Anrufbeantworter ran.
Mist.
Den Anrufbeantworter konnte er ja schlecht fragen, ob Jochen Kuhnt eine Schreibmaschine besaß. Schon weil nicht auszuschließen war, dass Klaus Piontek bei der schönen Ursula auflaufen und das Band abhören könnte. Und schlau, wie er war, wüsste er dann sofort, wohin der Hase lief.
Was zu vermeiden ist, dachte Schwartz und legte unverrichteter Dinge wieder auf.
Er packte die Akten zusammen und stopfte sie in seine Tasche. Besser, er trug sie mit sich herum, als dass sie von Tobi oder wem auch immer nachträglich noch frisiert wurden.
Überhaupt Tobi … Was war eigentlich mit dem? Der hatte kein Alibi. Allerdings auch nichts mit der Sache zu tun. Warum sollte er den BGS -Mann Jochen Kuhnt umbringen? Tobi hatte kein Motiv. Zumindest wusste Schwartz von keinem.
Er nahm seine Jacke und verließ das Büro.
»Denken Sie an die KT ?«, mahnte er Vicky, als er das Haus verließ, doch die versicherte, dass alles längst auf dem Weg sei.
Das »La Habanera« befand sich in der Beletage eines ehemals prächtigen Gründerzeitgebäudes am Görlitzer Obermarkt. Im Laufe der Jahre war die Fassade arg heruntergekommen, inzwischen aber eingerüstet, was auf baldige Besserung hoffen ließ.
Ursprünglich sollte die Tanzschule »Valparaiso« heißen, doch die DDR -Behörden waren dagegen. Zu sehr war die chilenische Hafenstadt Symbol des Scheiterns. Hier hatte 1973 der Putsch gegen Salvador Allende und seine Regierung der Unidad Popular ihren Anfang genommen. Kuba dagegen galt als Beweis, dass der Sozialismus auch in Lateinamerika erfolgreich sein konnte. Castro hatte
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