Grenzwärts
mich erschießen, Jule, wenn du von mir loskommen willst.
Wir haben das Ufer des Baggersees erreicht, und das Wasser steigt langsam an unseren Beinen hoch.
Na, was ist? Du hast doch Schiss vorm Wasser, panische Angst. Du wirst ersaufen, wenn du mich nicht tötest. Du wärst sowieso längst ersoffen.
»Katenbach, weißt du noch? In der Schwimmhalle. Da wärst du als Erstes ertrunken. Als er dich reingeschmissen hat. Vielleicht hätten wir es dabei belassen sollen!«
»Ich hasse dich«, schreit Jule verzweifelt und will sich losreißen. Sie versucht, mir gegen das Schienbein zu treten, doch ich drücke ihre Handgelenke brutal nach oben weg, sodass sie im Wasser vor mir in die Knie gehen muss.
»Hör auf, Kudella«, stöhnt sie auf, »du tust mir weh!«
»Ach ja? Wundert dich das, Jule?« Ich hab so die Schnauze voll. »Vielleicht macht es mir Spaß, dir wehzutun. Ich bin doch eine Bestie, eine brutale Faschosau, schon vergessen?«
Das Wasser umspült ihre Schultern. Sie starrt mich angstvoll an, schießt aber noch immer nicht. Warum zögerst du?, denke ich immer wütender. Du hast doch ohnehin längst über mich gerichtet. Kudella, der böse Rassist und Frauenschänder. Eine Gefahr für jeden Gutmenschen. Du solltest deinem Urteil Taten folgen lassen, Jule! Du musst es vernichten, das Böse. Sonst bringt es dich um. Sonst ertränkt es dich, wenn du nicht endlich schießt!
»Du bist hier mal im Eis eingebrochen, erinnerst du dich? Auch da wärst du gestorben, wenn ich dich nicht rausgeholt hätte. Und zuletzt heute an der Neiße. Du wärst jedes Mal ersoffen, Jule. Du wärst schon lange tot.«
Ich packe ihren Kopf und drücke ihn brutal unter Wasser. Sie zappelt heftig, ihr langes Haar wogt herum, Luftblasen steigen auf.
»Vielleicht hätte ich nie in dein Schicksal eingreifen sollen, Jule. Vielleicht wäre das besser gewesen. Denn dann …« Ich ziehe sie an der Kapuze ihres Anoraks wieder hoch. »… wäre uns diese ganze Scheiße hier erspart geblieben.«
Sie prustet, hustet erstickt Wasser. »Bitte, Kudella …«
Bitte? Ich fasse es nicht! Habe ich eben »bitte« gehört? »Die ganze Zeit machst du mich hier fertig und plötzlich ›bitte‹? – Einen Mörder kann man nicht bitten, Julia!«
Ich tauche sie wieder unter. Wollen wir doch mal sehen, wie viel dein Scheißpazifismus wert ist. Absaufen oder den Nazi abknallen, deine Entscheidung, Jule. Es ist ganz einfach. Ich oder du …
57
IN DER SPEDITION wurde alles auf den Kopf gestellt. Durchsuchungskommandos räumten Regale und Aktenschränke aus, kistenweise wurden Unterlagen und Ordner beschlagnahmt, jeder Lastwagen wurde gründlich inspiziert.
Oberkommissar Romeo Schwartz und Liliana Petkovic saßen in der Déesse auf dem Hof der Spedition und hatten beide eine Bratwurst vom »Imbiss am Ring« in den Händen.
»Und?«, fragte Schwartz. »Gut?«
»Lecker.« Liliana Petkovic kaute. »Gab’s die schon zu Ostzeiten?«
»Na sicher. Hungern mussten wir nicht.«
»Das wäre noch gekommen«, da war sich die Petkovic sicher, »Honecker hätte euch nicht mehr lange ernähren können.«
»Ach ja? Wie kommen Sie darauf?«
»Das hab ich irgendwo gelesen. Im ›Spiegel‹, glaube ich.«
»Na dann«, Schwartz schüttelte unmerklich den Kopf, »muss es ja stimmen. Dann wäre das Zentrum des Aufstandes gegen die SED aber nicht in Leipzig oder Berlin gewesen, sondern hier.«
»In Zittau?«
»In Zittau«, nickte Schwartz, »wenn der ›Imbiss am Ring‹ keine Würste mehr gehabt hätte … Was denken Sie, wie die Leute hier auf die Barrikaden gegangen wären. Das hätte einen Sturm gegeben, der alles hinweggefegt hätte.«
»Verstehe. Schlesischer Weberaufstand zwei.«
»Genauso wie Görlitz«, bekräftigte Schwartz, »keine sauren Gurken mehr – und Honecker hätte gehen müssen.«
»Nun hat es ja auch so geklappt«, sagte die Petkovic.
»Wegen der Mauer!« Schwartz tippte sich gegen die Stirn. Denn was war die Mauer schon gegen Görlitzer Gurken und Zittauer Bratwürste.
»Ich habe übrigens eine Idee, wie wir die Gussinskis doch noch schnappen können«, sagte er nach einer Weile.
»Sie wollen sich unbedingt fürs LKA empfehlen, oder?«
»Ich möchte vor Ihnen brillieren, Petkovic«, sagte Schwartz. »Wenn enner zu woas kumm’m will, do muss’r woas derfinn; sunnst koannerch’s ganze Lab’m lang im a poar Pfennge schinn!«
»Bitte?«
»Wenn einer zu was kommen will«, übersetzte Schwartz, »dann muss er was erfinden, sonst
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