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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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Böse. Weil es nicht halb so verlogen ist wie das angeblich Gute!«
    Mit der linken Hand greife ich ihr ins nasse Haar, ziehe ihren Kopf nach hinten. Mit der rechten Hand drücke ich ihr die Pistole an die Stirn. Eine Kugel ist noch drin.
    »Du hast die Gelegenheit vertan, Jule. Du hättest mich töten sollen. Jetzt ist es zu spät. Das Böse hat gewonnen. Und wenn ich jetzt abdrücke, ist alles vorbei für dich. – Ende! – Abgeknipst.«
    Dabei habe ich sie so geliebt. Immer. Bedingungslos. Sie war immer mein Engel. Mein kleiner, süßer Engel …
    Ich streiche ihr liebevoll über die zitternden Lippen. Beuge mich zu ihr, küsse sie. Ganz sanft. Kein Knutschen, nur eine Berührung. Ich liebe sie. Warum hasst sie mich so?
    Oder nicht? Sie öffnet ihren Mund ein wenig, erwidert meinen Kuss. Sie schließt ihre Augen und schmiegt sich zitternd an mich, ihre nassen Arme umschlingen mich ganz fest. Ihr schmaler Körper drückt sich an den meinen, so als könne uns nie wieder etwas trennen. Unsere Zungen umkreisen einander, wir sind uns ganz nah und voller Leidenschaft.
    Und dann tritt sie mir in die Eier. Sie stößt mich zurück, schnellt aus dem Wasser hoch und spritzt davon.
    Mit Schmerzen reiße ich die Pistole hoch und drücke ab. Ganz automatisch. Es ist ein Reflex.
    Jule bäumt sich auf, stolpert auf den letzten Metern und bleibt bäuchlings im schlammigen Wasser liegen.
    Jetzt erst erwache ich. Wie aus einer Trance. Und befinde mich in einem Alptraum. Denn mir wird klar, dass ich tatsächlich geschossen habe. Ich starre auf Rolands tschechische Armeepistole in meinen ausgestreckten Händen. Ich habe geschossen und getroffen. Das verlernt man nie.
    »Jule!«, schreie ich und laufe zu ihr hin. Um Gottes willen, Jule! Sie liegt im Wasser mit dem Gesicht nach unten und rührt sich nicht. In ihrem Rücken ein Einschussloch, kaum zu sehen zwischen den Falten des klatschnassen Anoraks, aber es ist da.
    Ich habe sie wirklich erschossen! Mit meiner letzten Kugel! Die Waffe fällt mir aus der Hand, platscht ins Wasser.
    »Jule!« Entsetzt falle ich neben ihr auf die Knie.
    Jule, bitte, tu mir das nicht an, tu mir das nicht an!
    Vorsichtig drehe ich sie auf den Rücken, wische ihr die langen Haare aus der Stirn. Sie sieht mich an, mit seltsam verschleiertem Blick, stöhnt leise.
    Die Kugel hat ihren Körper glatt durchschlagen, denn auch unterhalb ihrer Brust sickert aus ihrem feuchten Pulli Blut.
    Das wollte ich nicht! Verdammt, ich wollte das doch nicht, niemals! Jule, stirb nicht, hörst du? Du darfst nicht sterben! Ich nehme sie vorsichtig in den Arm, streichle ihr über den nassen Kopf. Tränen laufen mir über die Wangen. Stirb nicht, bleib bei mir, Jule, tu mir das nicht an!
    »Halt mich fest«, haucht sie zitternd und drückt mit kleiner weißer Faust meine Hand, »halt mich ganz fest.«
    »Ich hab dich, Jule«, beruhige ich sie, »ich hab dich.«
    Sie lächelt schwach. »Es wird alles wieder gut, ja?«
    »Sicher, Jule«, nicke ich, »alles wird gut.«
    Sie sieht mich an aus großen Augen, ihr Blick wird weit und klar. Dann fällt ihr Kopf kraftlos hintenüber.
    Nein, denke ich, bitte nicht! –  JULE !
    Ich presse sie fest an mich. Jule, geh nicht weg, tu mir das nicht an! Bleib bei mir, bleib bei mir, bleib bei mir!
    OH GOTT, BITTE, BLEIB BEI MIR!!!
    Ich sehe nicht den alten Citroën, der, mit einem Blaulicht vorn auf dem Kotflügel, über die lehmige Ebene heranschaukelt und direkt neben mir stoppt.
    Ich bemerke nicht den Kommissar, der eilig aus dem Wagen steigt und sich fluchend zu mir und Jule herunterbeugt.
    »Petkovic! Notarzt, schnell!«
    Ich höre nicht das Bellen der Suchhunde, mit denen uniformierte Polizisten das gesamte Gelände um den Baggersee absuchen. Sie schlagen am Bauwagen an. Irgendwer hat Swetlana, die freche Hure aus dem Bus, gefesselt und geknebelt hier eingesperrt. Jetzt wird sie befreit, aber ich bekomme davon nicht viel mit. Es interessiert mich auch nicht. Abwesend hocke ich im Matsch und halte Jules schlaffe Hand. Bin wie betäubt. Ich fühle nichts, mein Kopf ist leer. Ich spüre nur den Wind. Mit sanften, kühlen Böen kräuselt er das Wasser auf dem Baggersee und schüttelt das Herbstlaub aus den Kronen der umliegenden Bäume.
    Und er trägt Musik heran. Astor Piazzolla. Ganz deutlich höre ich das Bandoneon.
     
    »Vuelvo al Sur,
    como se vuelve siempre al amor,
    vuelvo a vos,
    con mi deseo, con mi temor.«
    Das Lied, mit dem wir einst den Wettbewerb der sächsischen Tanzschulen

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