Grenzwärts
typisch war für diese Gegend. Früher lebten hier, in der niederschlesischen Oberlausitz, überwiegend Weber. Ihre Häuser bauten sie auf Stützpfählen, die sie mit schweren Bohlen wie ein Blockhaus auskleideten. Das war die Weberstube. Darüber und auf den Stützpfählen ruhend wurde der Wohn- und Schlafbereich in Fachwerkbauweise ausgeführt. Ein hohes Satteldach, in dem sich der Heuboden oder diverse Abstellkammern befanden, schützte das Haus vor Regen und Schnee.
Heute war die alte Weberstube der urige Mittelpunkt des Hauses. Wohn- und Esszimmer zugleich. In einer aus Feldsteinen gemauerten Ecke befand sich ein riesiger Kachelofen, der im Winter mit Holz und Kohlen befeuert wurde und auch die übrigen Zimmer heizte.
Schwartz kannte hier jeden Winkel. In diesem Haus war er aufgewachsen, es war seine Heimat, seine Basis. Von hier aus hatte er die Welt entdeckt.
Und seit der Wiedervereinigung, seit es Baumärkte gab in der Oberlausitz, hat er viel an dem Haus gemacht. Das Fachwerk renoviert, alte, morsch gewordene Balken ausgetauscht, das Dach neu mit Schindeln eingedeckt. Seine handwerkliche Begabung wuchs mit den Herausforderungen, und Oma zuliebe hatte er ihr auch eine neue Einbauküche spendiert. Rustikal wie das Haus, aber mit allen technischen Finessen. Oma revanchierte sich, indem sie ihm die Wäsche wusch und ihn bekochte. Jeden Sonntag fuhr er abends mit einer prall gefüllten Kühlbox nach Dresden zurück. Essen für die ganze Woche, tiefgekühlt – er musste es nur noch warm machen.
»Josch schlachtet heute«, sagte Oma, während sie ihm einen riesigen Teller mit Buttermilchplinsen hinstellte. Dazu Zucker und Gläser mit selbst gemachtem Pflaumen- und Apfelmus. »Soll er uns was beiseitelegen? Schönen Schinken oder zarte Schweinelendchen? Dazu Kartoffelbrei mit Soße und Buttermöhrchen?«
»Klingt gut.« Schwartz langte zu. Nirgendwo schmeckten die Plinsen so gut wie bei Oma. Überhaupt war hier das Essen am besten. Da konnte kein Dresdner Restaurant mithalten. Obwohl sich einige davon für wahre Gourmettempel hielten. Pah! Die kannten Omas Küche nicht.
Er überlegte, ob er ihr von Habersaaths Wutausbruch erzählen sollte oder davon, wie ihn die Petkovic fragte, ob er ihr auf den Hintern sah. Er ließ es bleiben. In ihrem Alter würde Oma es nicht verstehen. Dass Frauen aus dem Westen sich so verhielten, verstand er selbst ja kaum.
Wir Menschen in Ost und West, dachte er nicht ohne Pathos, sprechen zwar dieselbe Sprache, meinen aber oft grundverschiedene Dinge. Das ist das Problem. Vierzig Jahre deutsche Teilung kann man eben nicht einfach beiseiteschieben.
»Gefällt sie dir?« Oma saß vorgebeugt auf ihre Ellenbogen gestützt und sah ihn prüfend an.
»Wer?«, fragte Schwartz kauend.
»Na, diese Kroatin. Wie hieß sie noch?«
»Petkovic«, antwortete Schwartz und wischte sich den Mund an einer Serviette ab. »Liliana Petkovic.«
»Ich kannte auch mal einen Ovic«, sagte Oma versonnen. »Gubanovic oder Dubanovic hieß er, glaub ich. War Kriegsgefangener. Arbeitete als Knecht bei den Hildebrandts. Ich hab ihm ab und zu was zugesteckt, weil er so verhungert aussah.«
»Mehr war nicht?« Schwartz trank einen Schluck vom selbst gekelterten Birnenmost und beobachtete sie grinsend aus den Augenwinkeln. »Ich meine: Wo Opa doch im Krieg geblieben war …«
»Also!« Empört sprang Oma auf, und Schwartz fing laut an zu lachen. »Das hätte ich nie … Nicht mal gedacht! Frecher Hund, du!«
»Ist ja gut!« Schwartz hob abwehrend die Hände, weil ihm Oma einen Nasenstüber versetzen wollte. »Sie gefällt mir, hör auf!«
»Ach!« Oma ließ von ihm ab und setzte sich interessiert hin. »Sie gefällt dir also?«
»Mal mehr, mal weniger«, winkte Schwartz ab.
»Wie alt?«
»Ende zwanzig«, Schwartz nahm noch eine Plinse, »Anfang dreißig. Ungefähr.«
»Hübsch?«
»Auf ihre Art schon. Ziemlich kompliziert. Charakterlich, meine ich.«
»Ist halt ausm Westen«, nickte Oma, »das hat sie alle verkorkst.« Sie seufzte. »Aber vielleicht kriege ich das ja hin. Bring sie doch mal mit!«
»Oma, wir sind Arbeitskollegen«, mahnte Schwartz, »mehr nicht.«
»Das kann noch werden. Deinen Opa habe ich auch während der Arbeit kennengelernt. Und wir mochten uns anfangs überhaupt nicht.«
Schwartz kannte die Geschichte. Sie war ihm schon zigmal in verschiedenen Versionen erzählt worden. Mal war es Liebe auf den ersten Blick, mal anfänglicher Hass, mal ist er ihr erst nach einem Jahr
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