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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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am fernen Rhein, in der sie die letzten vier Jahre verbracht hat, und es kommt mir vor wie ein orientalisches Märchen. Angeblich gibt es sogar Minarette in Düsseldorf, wegen der vielen türkischen Einwanderer – ich kann es kaum glauben. Wie halten die Leute das aus? Nachbarn zu haben, die zigmal am Tag Allah anrufen und bei Familienfesten blutig Lämmer schächten. In einer Stadt zu leben, in der ein Viertel der Frauen verschleiert rumläuft, in der es türkische Teestuben und Gemüseläden gibt, türkische Reisebüros, Banken und Imbissketten.
    »Du solltest so ‘n Döner Kebab mal versuchen«, meint Jule, »viel Fleisch, scharfe Sauce und Salat in knusprigem Fladenbrot – das wäre genau dein Ding, nehme ich an. Du würdest nichts anderes mehr essen wollen.«
    Na, ich weiß nicht. »Sprechen die überhaupt Deutsch, oder muss man in Düsseldorf Türkisch lernen, um verstanden zu werden?«
    »Die verstehen dich schon.« Jule lächelt. »Viele von denen sind ja in Deutschland geboren. Und untereinander sprechen sie so ein komisches Mischmasch aus Deutsch und Türkisch …« Sie macht es vor: »Yallah, Alter, güle güle! Treffen wir uns bei Özgida?«
    Mir wird angst und bange. Kommt das jetzt auch auf uns zu? Immerhin ist die Mauer weg, der Weg frei für die türkischen Horden.
    »Nun guck nicht so entgeistert!« Jule lacht. »Die sind eigentlich ganz nett. Nur die Männer sind manchmal ziemlich machomäßig drauf, echt nervig – aber du würdest mit denen bestens klarkommen, bist ja selber so ‘n Typ.«
    Ich? Nervig wie ein Türke? »Nun mach mal halblang, Jule!«
    »Doch, doch!« Und wieder ihr helles Lachen. »Stärke, Kraft, Durchsetzungsvermögen, Respekt – diese ganzen Sachen sind für türkische Männer genauso wichtig wie für dich.«
    »Und warum sind die nicht in der Türkei geblieben?« Das ist doch die entscheidende Frage. Was machen die in Deutschland? Was wollen die hier?
    »Sie wurden geholt«, sagt Jule und wird wieder ernst. »Die türkischen Einwanderer haben Deutschland aufgebaut nach dem Krieg. Sie haben die Jobs gemacht, für die sich Deutsche zu schade waren oder die Deutsche nicht machen konnten – zum Beispiel, weil es ja viel zu wenig Männer gab. Die waren ja alle im Krieg geblieben. Und deshalb holte man die Türken ins Land, Anfang der sechziger Jahre.«
    Na bitte, sie beschönigt das. Von wegen die Türken haben Deutschland aufgebaut – Anfang der sechziger Jahre war das Gröbste doch längst getan! Und Männer waren bis dahin auch wieder nachgewachsen. Na ja, vielleicht nicht ganz, die müssen da so fünfzehn, sechzehn Jahre alt gewesen sein, aber egal, arbeiten kann man in dem Alter schon ganz ordentlich. Trotzdem, Jule bleibt dabei.
    »Das viel beschworene deutsche Wirtschaftswunder«, erklärt sie pathetisch und mit funkelnden Augen, »wurde zum großen Teil von den Türken geschaffen.«
    Oh je, denke ich. Die hat’s vielleicht erwischt. Das klingt nach einer Gehirnwäsche der ganz besonderen Art, und die Frage ist, wie man Jules Kopf wieder gerade rücken kann. Vorsichtig sein, überlege ich, nur nicht mit der Tür ins Haus fallen. Kommt Zeit, kommt Rat.
    »Rauchen wir erst mal eine«, sage ich deshalb und ziehe meine Schachtel Karo hervor.
    »Ich hab schon lange nicht mehr geraucht«, zögert Jule, greift dann aber doch zu. »Wusste gar nicht, dass es Karo noch gibt.«
    »Gutes setzt sich eben durch.« Ich lasse mein Feuerzeug aufschnappen und halte es ihr hin.
    Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht, steckt die Zigarette vorsichtig zwischen die Lippen und führt sie an die Flamme heran. Die Glut leuchtet auf – und Jule beginnt zu husten.
    »Gott«, sagt sie krächzend und schüttelt sich, »waren die schon immer so stark?«
    »Stärker«, antworte ich, denn das ist meine feste Überzeugung. Nach der Wiedervereinigung haben sie selbst der guten alten Karozigarette Aromastoffe beigemischt. Sozusagen zur Erschließung neuer Märkte. Damit auch die Weicheier aus dem Westen mal was Richtiges rauchen.
    »Puh«, stöhnt Jule, »ich kann gar nicht glauben, dass ich das mit vierzehn schon vertragen hab.«
    Ich grinse. »Du hast noch ganz andere Sachen vertragen, Baby.«
    »Ich glaub, mir wird schlecht!« Tatsächlich ist sie bleich geworden. Und das wäre wirklich Mist, denn dann wäre der Abend rasch vorbei.
    »Lass es, Süße!« Ich nehme ihr die Zigarette wieder ab und drücke sie im Ascher aus. »Du musst nicht rauchen, okay?«
    »Ich muss ohnehin nichts, was ich

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