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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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nicht will«, erwidert sie entschieden und trinkt von ihrem Bier. »Und sag nicht immer Süße zu mir. Oder Baby, wir sind nicht mehr in den Achtzigern.«
    »Und wie soll ich dich dann nennen? Jule?« Ich singe den alten Neigel-Hit an:  »Ist mir egal, ob du mein Eis zerstörst – ich will in deiner Hand zergeh’n – ist mir egal, ich will mit Haut und Haaren untergeh’n …«
    Jule fällt kichernd ein,  »ohohoh, ich sehe Schatten an der Wand – ohohoh, sie erzählen mir aus einem neuen Land« , bevor sie die Hände vors Gesicht schlägt und heftig die langen Haare schüttelt. »Auweia, du hast wirklich nichts vergessen, was?«
    »Warum sollte ich?« War doch ‘ne schöne Zeit damals. Wie oft hab ich gedacht, warum kann man sie nicht einfach zurückdrehen? Alles auf Anfang, noch mal von vorn.
    Andererseits, sie hat recht. Wir sind nicht mehr in den Achtzigern. Wir haben 1993, und dies ist auch ein Anfang. Vielleicht sogar der Bessere.
    »Also: Wie soll ich dich nennen? Jule oder Julia, Chérie, Schatz, Schnuckelchen?«
    »Schnuckelchen? Bist du bekloppt?« Sie wiehert drauflos. »Andreas Kudella, der kahle, große Mann mit Bomberjacke, sagt Schnuckelchen zu mir, ist das krass!«
    »Wie dann?« Auch ich muss lachen. »Verdammt noch mal!«
    »In Düsseldorf sagen sie Lia zu mir.«
    Wie jetzt? »Lia?«
    »Na ja. Von Ju-Lia. Lia eben.« Sie steht auf und geht zu meinem Kassettenrekorder, um zu sehen, was ich so für Musik höre.
    »Du hast ihn noch, den alten Sternrekorder?«
    »Klar, warum nicht.« Zügig lasse ich ein paar Kassetten verschwinden, weil ich nicht glaube, das Bands wie »Störkraft« oder die »Onkelz« ihrem Musikgeschmack entsprechen. Die würden mich nur wieder in politische Diskussionen verwickeln, und davon habe ich heute genug.
    »Ich hab sogar noch alte Musik«, sage ich und lege rasch ein Tape von Astor Piazzolla ein, dem berühmten argentinischen Tangobarden.
    »Weißt du noch«, frage ich, als das Bandoneon erklingt, »die Tanzschule in Görlitz? Das ›La Habanera‹?«
    »Klar weiß ich das noch.« Jule hat plötzlich so einen rätselhaften Ausdruck in den Augen. »Das ist ›Vuelvo Al Sur‹.«
    »Damit haben wir den Tangowettbewerb der sächsischen Tanzschulen gewonnen und dem ›La Habanera‹ Ruhm und Ehre gebracht.« Ich breite die Arme aus. »Schauen wir mal, ob wir’s noch draufhaben. Darf ich bitten? – Lia?«
    Sie erhebt sich und lässt sich von mir in die Arme nehmen. »Trotzdem bist du mir immer auf die Füße getreten.«
    »Manchmal gehört der Schmerz einfach dazu«, antworte ich leise und leite eine Quebrada ein. Und dann tanzen wir den langsamen Tango Nuevo.
     
    »Vuelvo al Sur,
    como se vuelve siempre al amor,
    vuelvo a vos,
    con mi deseo, con mi temor.«
    Wie leicht sie sich führen lässt. Wie sanft sie in meinen Armen ruht, mit geschlossenen Augen, voller Vertrauen. Im Tanz, denke ich, gibt sie sich mir hin. Das hat sie immer getan. – Warum nicht auch im Leben?
     
    »Quiero al Sur,
    su buena gente, su dignidad,
    siento el Sur,
    como tu cuerpo en la intimidad.«
    Den Gancho führe ich ruckartig aus, fast brutal, damit sie endlich erwacht. Hey, Jule, ich bin’s, verdammt noch mal! Und ich liebe dich abgöttisch! Wir stoßen dabei den Stuhl um, die ohnehin kaputte Lehne bricht, Jeans und Bomberjacke, die drübergehängt waren, gehen zu Boden, und irgendwas Schweres schlittert über das fleckige Linoleum. Egal. Ich begehre dich, Jule, oder meinetwegen Lia, merkst du das nicht? Und ich habe schon wieder einen Steifen …
     
    »Te quiero Sur,
    Sur, te quiero,
    te quiero …«
    »Was ist das?« Plötzlich stockt sie mitten im Tanz und starrt auf den Boden.
    Direkt vor uns, zu unseren Füßen, liegt Rolands tschechische Armeepistole. Jene Waffe, die ich ihm an der Neiße abgenommen hatte, als er mich damit bedrohte. Sie lag die ganze Zeit unter einem schmutzigen T-Shirt auf dem Stuhl, und ich hatte sie völlig vergessen.
    »Scheiße«, ruft Jule lauter, »was ist das, Kudella?«
    »Eine Waffe«, antworte ich ruhig, »neun Millimeter Parabellum, so ‘ne Art Luger-Nachbau. Wird von der tschechischen Armee benutzt.«
    »Und wofür benutzt du sie?« Jule starrt mich entsetzt an. »Sag’s mir: Wozu brauchst du eine Waffe?«
    Ich brauche keine Waffe, könnte ich ihr sagen. Doch das würde nicht erklären, warum das Teil überhaupt hier ist. Und ich könnte ihr sagen, dass es Rolands Pistole ist. Die ich beschlagnahmt habe, konfisziert sozusagen, damit er niemandem

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