Grenzwärts
schon umziehen können und trug einen gestreiften Pyjama.
Swetlana dagegen hatte noch immer ihr rotes Lackjäckchen an und war inzwischen völlig durchgefroren.
Julia wickelte sie in ihre Bettdecke ein und lief dann unruhig im Zimmer umher.
»Also, auf den Kirchhof kommt man jetzt nicht rauf. Ich hab’s versucht, aber da ist alles voller Bullen.«
Swetlana sah besorgt aus. »Was werden sie mit Jelena machen, wenn sie merken, dass ich weg bin?«
»Alle sind weg«, erwiderte Julia, »und das ist in gewisser Weise ein Vorteil. Denn wenn die Leute, die deine Schwester festhalten, denken, dass du auch von Neonazis entführt wurdest, lassen sie Jelena vielleicht in Ruhe.« Sie sah aus dem Fenster hinunter auf den Platz. »Trotzdem müssen wir den Brief natürlich finden. Je früher, desto besser.« Sie wandte sich wieder Swetlana zu. »Hast du ihn schon gelesen? Weißt du ungefähr, was drinsteht?«
»Nein.« Swetlana schüttelte den Kopf. »Kaemper passt immer wie ein Wachhund auf uns auf. Ich wollte warten, bis er schläft …«
Plötzlich klopfte es an der Tür. »Fräulein Latte, haben Sie Besuch?«
Die Rouché! Julia erstarrte. Hatte die Wirtin etwas gemerkt? Oder gar gesehen?
Julia tippte sich mit dem Zeigefinger an den Mund und bedeutete Swetlana so, ganz still zu sein. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür. Nur einen Spalt, damit Frau Rouché nicht ins Zimmer sehen konnte.
»Wie kommen Sie darauf? Es ist mitten in der Nacht.«
»Nun, mir war, als hätte ich Stimmen gehört«, sagte Frau Rouché und versuchte neugierig, einen Blick ins Zimmer zu erhaschen, doch Julia trat schnell zu ihr hinaus in den Gang und zog die Tür hinter sich zu.
»Ist es Ihren Gästen etwa verboten, Besuch zu haben?«
»Nun«, Frau Rouché lächelte schief, »wenn sie über Nacht bleiben, sollten sie bezahlen wie normale Gäste auch und …« Sie hob unentschlossen die Hände. »… außerdem wissen wir gern, wen wir bei uns im Hause haben, auch wenn es nur ein Besucher unserer Gäste ist.«
»Ja, das verstehe ich«, nickte Julia, »das verstehe ich gut, Frau Rouché.« Sie lächelte. »Aber Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Ich empfange grundsätzlich keine Besucher in meinem Schlafzimmer. Nicht einmal den Herrn Paich.«
»Und diesen anderen Herrn«, fragte Frau Rouché skeptisch, »diesen Großen im gestreiften Anzug?«
Kudella, dachte Julia, du lieber Gott, den kennt sie auch schon.
»Ich sagte doch«, stellte sie schärfer klar, »ich empfange grundsätzlich niemanden.«
»Na, dann ist’s ja gut«, beeilte sich Frau Rouché beschwichtigend, »es war ja auch nur so ein Gefühl, wissen Sie.«
»Gute Nacht«, sagte Julia.
»Ja. Ihnen auch eine gute Nacht.«
Julia wartete, doch Frau Rouché machte keine Anstalten, zu gehen. Und so standen sich die beiden Frauen gegenüber, etwas verlegen, aber unbeugsam. Frau Rouché hoffte offensichtlich darauf, dass sie – wenn Julia in ihr Zimmer ging – vielleicht doch noch einen kontrollierenden Blick hineinwerfen konnte, doch genau dies suchte Julia zu verhindern. Sie wartete darauf, dass sich die Wirtin verdünnisierte. – Vergeblich.
»Haben Sie nicht noch Wäsche?«, fragte Frau Rouché nach einer Weile. »Da Sie ja offenbar bekleidet zu baden pflegen«, fügte sie spitz hinzu, »könnte ich die Sachen in den Trockner geben?«
»Gern«, erwiderte Julia ungerührt. »Ich bringe sie Ihnen gleich runter.«
»Ich könnte die nassen Sachen schon jetzt mitnehmen«, insistierte Frau Rouché und beugte sich etwas vor. »Wo ich doch schon mal hier bin …«
»Ich bringe sie Ihnen runter!« Julia schrie es fast.
Und endlich bewegte sich die Wirtin. Sie wich etwas zurück und kletterte dann wieder die Stiege zum Dachboden hinauf, nicht ohne sich vorher noch einmal beleidigt umzusehen.
Puh, dachte Julia, das war ziemlich knapp. Rasch ging sie zurück ins Zimmer und verriegelte die Tür.
»Wir müssen leiser sein«, flüsterte sie, »vielleicht hat die Rouché etwas bemerkt.«
Swetlana stand sofort auf. »Ich gehe besser.«
»Quatsch, du bleibst hier!« Julia drückte sie entschieden wieder aufs Bett zurück. »Du kannst doch nirgendwohin, und hier bist du sicher.«
»Und wenn jemand reinkommt?«
»Hier kommt niemand rein«, sagte Julia, »solange ich hier wohne, ist das sozusagen mein Zuhause. Wir sind in Deutschland, da sind Wohnungen gesetzlich geschützt. Ohne meine Zustimmung darf hier niemand rein. Das wäre Hausfriedensbruch.«
Eine der wenigen Sachen,
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