Gretchen
brauchten unendlich viel Zeit und Zuwendung. Manche wollten bis spät in den frühen Morgen an ihrem Küchentisch sitzen und über die Drehbühne oder die Hamletmaschine diskutieren, andere einfach nur mal weinen oder schreien oder brechen oder alles auf einmal. Und auch wenn sie ihr manchmal fürchterlich auf die Nerven gingen, insbesondere dann, wenn sie gockelten und überdrehten, wenn sie wie Flummis umherhüpften und jegliche Nonchalance vermissen ließen, so hatte sie doch trotz allem ihre Schauspieler immer, nun ja, geliebt. Sie hatte nicht arbeiten können mit Schauspielern, die sie nicht liebte. Selbst Schauspieler, die sie hasste, liebte sie für die Zeit, in der sie miteinander arbeiteten. Einfach so, das war Familie, temporär, da konnte man nichts machen. Danach war der Hass in der Regel auch sehr viel aufrichtiger und intensiver und nicht so wie ein feuchter Waschlappen.
Nein, Kinder hatte es in ihrem Leben mehr als genug gegeben, die brauchte sie nicht auch noch in leiblich, zumal ihr bei einem Gedanken immer ganz blümerant wurde, denn wenn es eine Sache auf der Welt gab, die völlig indiskutabel war, jenseits aller Vorstellungskraft, dann war es: der Dammschnitt.
24
Sie hatte um etwas Aufregendes gebeten. Um irgendetwas Verrücktes. Ohne Natur. Mit Kunst und Beton. Zum Beispiel. Er sollte sie überraschen. Mit seiner Phantasie. Denn Großmut war ihr zweiter Name. Und nun saß sie in einem Café, im einzigen Café am Platz, direkt am Hafen, draußen saß sie, an einem der Plastiktische auf einem Plastikstuhl, und schaute einem Rennen zweier wirbelloser schlauchförmiger Tiere zu. Es war das interessanteste Ereignis weit und breit, keine Menschenseele sonst, nur diese Würmer, wie sie um ihr Leben krochen. Sie setzte alles auf Hubert, den rechten der beiden, weil er dicker war, eine Bauchentscheidung, und sie verlor ihr ganzes Vermögen, als eine Schwalbe aus dem Nichts niederstürzte und Hubert zum Nachtisch nahm. Ihr persönlicher Assistent versuchte seit geraumer Zeit innerhalb des Cafés die Bestellung aufzugeben. Er hatte noch gewarnt, dass es etwas länger dauern könnte, da Fjord, der Besitzer, Gäste nur bei ungewöhnlich exzellenter Laune und hartnäckig gutem Zureden bediente. Außerdem mussten sie persönlich vorstellig werden, die Gäste, sonst ging da gar nichts. Dass er nach draußen kam, daran war nicht zu denken. Er ging nicht raus. Gretchen Morgenthau kam das bekannt vor. Sie krimskramste in ihren Erinnerungen und dann fiel ihr Maria wieder ein, ihre erste Kinderfrau, die sie schon fast vergessen hatte. Nur wenige Sekunden von ihr, die im Gedächtnis weit hinten lagerten, zwischen all den Dingen, den verschwommenen, denen irgendwann die Stimmen abhanden kamen und die nur noch auf ihre Entsorgung warteten. Maria wollte auch nie rausge hen. Sie sagte immer, draußen warte nur der Tod, und das Schlimmste sei nicht der Beelzebub, der Herr der Fliegen, nein, es seien winzig kleine Organismen, die Bakterien heißen und die Menschen von innen aufessen. Da war Gretchen Morgenthau fünf Jahre alt. Sie hat Maria nie wirklich gemocht, sie war ihr unheimlich. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten im dämmernden Gegenlicht pechschwarz, und wenn die düstere Katholikin ihr am Hals baumelndes Kruzifix streichelte, dann glitzerten ihre dunkelrot lackierten Fingernägel, die immer viel zu lang waren und sich wie Krallen bogen.
»Ah …«
Eine Hand berührte ihre Schulter.
»… Frau Intendantin, wie schön, Sie persönlich anzutreffen.«
Es war Arne, der Bürgermeister. Von hinten hatte er sich herangeschlichen. Eine Unverschämtheit. Sie war nicht in Stimmung für den Herrn Biedermeier, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Er setzte sich ungebeten mit an den Tisch. Er roch nach Moschus. Und nach Büromöbel.
»Wenn ich Ihnen ein Kompliment machen darf: Großartig sehen Sie wieder aus. Dieses Kleid steht Ihnen ausgezeichnet, da erkennt man sofort die Dame von Welt. Wirklich, sehr schön. Auch die Farbe und der Schnitt, toll, einfach nur toll. Wenn ich irgendetwas tun kann, wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, bitte zögern Sie nicht, mir Bescheid zu geben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um es zu ermöglichen. Und was nicht möglich ist, wird möglich gemacht! Wie ist es Ihnen denn bisher so ergangen? Seit einer Woche sind Sie jetzt hier, und ich weiß noch immer nicht, was Sie von uns halten. Wie ist Ihr zweiter Eindruck? Fühlen Sie sich wohl hier? Wie geht es Ihnen? Erzählen
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