Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
gehandelt hatte.
Seine Geschichte fing damit an, dass er eben gerade auf seinem Weg in den Hirschgraben auf eine von Soldaten eskortierte Krankensänfte gestoßen sei. Die habe an der Katharinenpforte den Weg versperrt, sodass er warten musste, bis die transportierte Person mit Hilfe zweier Soldaten die Portechaise verlassen hatte und zum Turm hinaufgeführt worden war. Und in der Kranken − bei welcher es sich, wie ihm andere Passanten verrieten, um die berüchtigte, des Kindsmords angeklagte Verbrecherin handelte − in ebendieser Verbrecherin also habe der Herr Doktor Metz zu seinem höchlichsten Erstaunen eine Person erkannt, die ihm nicht fremd sei. Was ihm, wenn er ehrlich sei, ein echtes Schaudern eingejagt habe. (Wenn er noch ehrlicher gewesen wäre, hätte er auch verraten müssen, warum ihn so geschaudert hatte beim Anblick der Susann: Und zwar, weil er inzwischen eisig kalte Füße bekam, dass er der Person damals diesen für Mägde verbotenen wehenbefördernden Trank verschrieben hatte. Wenn das nun rauskäme.) Es handelte sich nämlich − berichtete er weiter − um eine Magd aus dem Gasthaus Zum Einhorn , die er vor Monaten einmal in der Praxis hatte. Er habe ihr damals ins Gesicht gesagt, sie sei wahrscheinlich guter Hoffnung. Darauf allerdings habe das Mädel so standhaft und treuherzig geleugnet, dass er, als barmherziger Christenmensch, ihr am Ende geglaubt habe. Es wolle ihm nicht in den Kopf, was in diesen Leuten vor sich gehe.
«Nicht viel», tat Georg Schlösser schroff das Thema ab, da er sich im Augenblick viel mehr für den vorhin sich anbahnenden literarischen Disput unter den sonst so einigen Geschwistern Goethe interessierte als für Geschichten über irgendwelche gefallenen Mägde. Zumal Cornelia jetzt derart ängstlich und blass aussah − da war er mal gespannt, was noch kommen würde in Sachen Faust.
Endlich ging der Metz.
«So, Schwesterchen», fing Wolfgang sofort an, als die Tür zu war. «Jetzt aber raus mit der Sprache, jetzt musst du’s uns sagen.»
«Ich wüsste nicht, was», gab Cornelie erschrocken zurück. «Ich weiß auch nicht, wie du drauf kommst, wahrscheinlich hast du mit dem Vater gesprochen, aber glaub mir, ich hab nichts zu sagen in der Sache, was nicht allgemein bekannt wäre.»
Die drei Herren stutzten und sahen sich an.
«Sag mal, Cornelchen, du bist doch nicht heimlich verlobt mit dem Metz − oder was erzählst du da? Ich rede übrigens vom Faust.»
«Ach Gott, natürlich. Ich war grad ganz woanders. Wahrscheinlich die Kopfschmerzen, die fangen wieder an.»
«Du solltest dich hinlegen, Cornelia», empfahl Georg Schlosser, und Cornelie ließ sich zumindest ein Kissen in den Nacken schieben. (Georg sagte übrigens sehr absichtlich Cornelia und nicht Cornelie. Ihm gefiel die strenge lateinische Variante des Namens wesentlich besser als die kosende deutsche mit dem weichen e-Laut hinten, oder gar, horribile dictu , Wolfgangs oder des Herrn Rats «Cornelchen». Das passte doch einfach nicht zu ihr!)
«Nun spann mich aber nicht weiter auf die Folter mit dem Faust», befahl ihr Bruder, allmählich gereizt. «Also: warum soll sich der Stoff nicht für ein Drama eignen?»
Cornelie hob gleich wieder den Kopf vom Kissen. «Weil er nicht dramatisch ist. Der Fauststoff hat einen Anfang, als der Faust dem Teufel seine Seele verschreibt. Und er hat ein Ende, wenn der Faust mit in die Hölle muss. Aber dazwischen ist nichts. In der Mitte ist die Geschichte hohl.»
«Wie? Ich versteh dich nicht. Von wegen nichts dazwischen: Der Mittelteil ist doch die Hauptsache am Faust, diese ganzen witzigen Episödchen, wie der Teufel dem Doktor bei seinem Ehrgeiz und seinen Abenteuern hilft …»
«Sicher. Aber das sind eben wirklich lauter einzelne Episödchen, die lose nebeneinanderstehen. Wunderbar als Volksbelustigung auf Messen, da können die Leute mal fünf Minuten stehen bleiben und sich amüsieren, und dann gehen sie weiter. Aber für ein Drama − da braucht man doch eine Entwicklung, einen Spannungsbogen, eine Dramatik eben. Den Bogen, den seh ich nicht im Faust.»
Wolfgang hatte, während sie sprach, sehr schnell gedacht, blitzartig, er konnte das manchmal, und er war gedanklich sozusagen einmal in der Hölle und zurück gewesen. Als sie «einzelne Episödchen» sagte, da hatte er erkannt, worum es ihr ging und dass sie recht hatte. Erschrocken war er, dass es ihm nicht selbst aufgefallen war, und es war ihm ganz schlecht geworden einen Augenblick, so als löste
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