Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
diesem Fall es ja immerhin gut sein konnte, dass durch seinen Einsatz eine Unschuldige vor der Exekution bewahrt würde.
Wer allerdings am Sonntagnachmittag tatsächlich eine unangenehme Überraschung erlebt, das ist nicht der Christian. Das ist der Erasmus selbst.
Zwar war der Christian unter seiner langen Pudelperücke so unwillig und entsetzt wie erhofft, als der Erasmus ihm seine Verteidigungsschrift um die Nase wedelte. Doch schien er von der Lektüre nicht sehr beeindruckt.
«Was soll das denn jetzt noch», sagt er, erst halb durch mit Lesen. «Die Teufelsbrut hat doch gestanden.»
«Was?!»
«Ja sicher. Im Hospital, ein paar Tage nach der Verhaftung. Sie hätt ihr Kind erwürgt.»
Die gruseligen Einzelheiten, wie es dazu kam, zu dem Geständnis, indem man der Kranken nämlich ihr schon drei Tage beerdigtes, zersägtes, angewestes Kind vorgelegt hatte, das verrät der Christian seinem Bruder allerdings nicht. Denn er fürchtet, der Bruder möchte sich, zum einen, delektieren an dem schauerlichen Bild, und zum anderen könnte er die Umstände zum Anlass nehmen, das Geständnis anzufechten, da es im Moment geistiger Umnachtung durch den großen Schrecken entstanden sei. Und dann würde er sie am Ende noch freibekommen, die unnatürliche Kindermörderin, an deren Schuld unter den städtischen Physicis niemand zweifelt.
Der Erasmus ließ seinen Ärger erst so richtig raus, nachdem Dr. J. Christian Senckenberg in seliger Pflichtergebenheit wieder davongewandelt war.
Dann ging’s aber rund im Dachgeschoss der Hauptwache. Heftigste Fluchgeräusche ausstoßend, die draußen dem Setzentreibel Gänsehaut verursachen, raste der gefallene Ratsherr hin und her in seiner Arreststube, trat gegen Tür, Tisch und Wände und zerriss das Verteidigungsschreiben in hundert kleine Fetzen. Die will er nicht mehr verteidigen. Selbst wenn sich mit seiner Gewieftheit auch nach dem Geständnis vielleicht noch was ausrichten ließe. Aber jetzt hat er keine Lust mehr. Nicht für ein hirnloses Blödchen. Ja verdammt nochmal! Das ist doch unglaublich, die Torheit von dem Mädel!
Es lag nämlich grundsätzlich außerhalb der Vorstellungskraft von Erasmus Senckenberg, ein Verbrechen zu gestehen.
Da es einem doch zum Nachteil gereicht, warum um Himmels willen sollte man das tun? Seine eigenen Verbrechen hat er nie zugegeben, stramm leugnet er sie alle bis heute, eindeutige Indizienbeweise hin oder her. Weshalb unter anderem er sich ja jetzt hier in einer schönen, bequemen Arreststube befindet und nicht etwa an irgendeinem Galgen baumelt.
Und bei Kindsmord zudem noch! Wo doch jeder weiß, dass nach Paragraph 131 Peinliche Halsgerichtsordnung bei Kindsmord im Prinzip nur das Geständnis zählt. Wo doch seines Wissens diverse Kindsmörderinnen davongekommen sind im Reich in den letzten Jahrzehnten, weil die Gutachter ohne Geständnis nicht zum Tode verurteilen wollten.
Und da gesteht sie, die Hirnlose. Ohne Not. Bei einem derart schwachbrüstigen Sektionsbericht.
Dem Erasmus Senckenberg geht allmählich auf, dass Dienstmägde eben doch eine gänzlich andere Spezies Mensch sind. Weiß er doch von seinen eigenen Mägden, nicht wahr. Was hat er da nicht alles erlebt. Jene Bekloppte zum Beispiel, die, als er ihr mit leeren Drohungen ein bisschen Angst einjagte, aus dem Fenster sprang vom zweiten Stock und sich das Bein brach. Oder das Luder, die Katharina, der er großzügig eine Abfindung angeboten hatte für das Kind, das er ihr gemacht hatte, vorausgesetzt, sie verschwinde aus der Stadt – die war so närrisch gewesen, in Frankfurt bleiben zu wollen und zu glauben, er würde sich’s gefallen lassen, wenn sie ihn auf Alimente und wegen Notzucht verklagt. Der hatte er’s gezeigt. Und jetzt wiederum die Schmalbachin, die wegen nichts im Gefängnis sitzt – weil sie zu dumm war, sich eine gute Ausrede auszudenken für das gebrochene Siegel an dem vom Rat verschlossenen Zimmer mit seinen Unterlagen.
Nein, beschließt der Erasmus Senckenberg, von Dienstmägden hat er nun endgültig genug. Mit diesem spinnerten, blödsinnigen Völkchen will er nichts mehr zu tun haben. Basta.
8. OKTOBER 1771
DER STÄDTISCHE Physicus primarius Doktor Gladbach mit seinem alten Geierkopf war gestern auf dem Katharinenturm erschienen, gemäß Befehl des Jüngeren Herrn Bürgermeisters, um nach allen Regeln der ärztlichen Heilkunst zu überprüfen, ob es stimme, was der dortige Gefängnisaufseher Richter Weines mitgeteilt hatte: Nämlich, dass die
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