Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
er sich selbst in Nichts auf zusammen mit seinem geplanten deutsch-shakespeareanischen Faustdrama. Und dann war’s ihm gekommen, Gott sei Dank, dass es sich mit etwas Mühe und Phantasie aus der Welt schaffen ließ, das Problem.
«Ach so. Ja, aber Cornelie, das war doch von Anfang an klar, dass ich den Spannungsbogen eben hineinbringen muss. Das ist natürlich meine Aufgabe als Dramatiker, dass ich den Volksstoff zwar nehme als Inspiration, aber doch eine neue Geschichte draus mache, bei der ich dann nicht nur Episödchen in der Mitte habe, sondern etwas Durchgehendes, Verbundenes.»
Cornelie kam sich etwas blöd vor.
Wolfgang hoffte, dass ihn niemand fragen würde, was denn diese durchgehende «neue Geschichte» sein solle.
Und Georg Schlosser dachte: Na bitte, sie ist doch nicht klüger als er. Es hat eben seinen Grund, wenn Dichter stets Männer sind und nicht Weiber.
SONNTAG, 29. SEPTEMBER 1771
VON SEINEM südwestlichen Eckzimmer im Dachgeschoss der Hauptwache hatte der inhaftierte Ratsherr und Freiherr Erasmus von Senckenberg Ausblick auf den Katharinenturm. Und wiewohl er das Tor ganz unten im Turm nur halb sah − ein schief gebautes Eckhaus versperrte ihm den Blick −, so hatte er natürlich mitbekommen, dass sich gestern hier was getan hatte. Zumal die Eskorte für den Gefangenentransport teils aus der Hauptwache stammte. Er hatte also seinen Wachposten vor der Zimmertür befragt, glücklicherweise mal wieder der kleine Setzentreibel, der ihm aufs Wort gehorchte. Und es stellte sich heraus, die transportierte Gefangene war die Kindsmörderin. Die war also wider Erwarten genesen im Hospital, wo man sonst nur zum Sterben hingeht. Also würde ihr nun wohl doch der Prozess gemacht.
Nachdem bei dieser Gelegenheit der Erasmus Senckenberg den Setzentreibel nochmals genüsslich gescholten hatte für die Tatsache, dass er nach der Verhaftung des Mädels versäumt habe, ihm dieses zwecks Unzucht aufs Zimmer zu bringen, ließ er sich von dem schwitzenden jungen Mann wieder einschließen und machte sich an seinen Schreibtisch. Da wurde es ja nun hohe Zeit, dass er sich einmischte. Kippelnd und an der Feder kauend entwarf er, was den Rat sehr ärgern musste: ein hinterfotziges Verteidigungsschreiben.
Von Bruder Christian, seines Zeichens Stadtphysicus, hatte er sich damals gleich nach der Verhaftung der Person eine Abschrift des Sektionsprotokolls erbeten und mit vielen moralinsauren Bemerkungen über die verruchte Mörderin eine Woche später auch erhalten.
Jetzt las er es nochmals durch. Das Protokoll war ein Witz.
Das wär doch gelacht, wenn er die nicht losbekäme.
Also gleich aufs Papier damit.
Puncto eins: die Lungenprobe. Beweist nicht die Lebendgeburt, notierte er, da es unter den medizinischen Gelehrten als umstritten gilt, ob nicht auch schon im Mutterleib vor und während der Geburt Luft in die Lunge gelangen könne. Zudem habe laut Sektionsbericht nur einer der Lungenflügel aufgeblasen gewirkt.
Puncto zwei: die Kopfverletzungen. Es geht, notierte er, aus dem Sektionsbericht nicht hervor, warum diese nicht durch einen Fall bei der Geburt oder auch post mortem entstanden sein sollten.
Puncto drei: diverse Kratzer und Abschürfungen. Natürlich post mortem entstanden, beim Verstecken des toten Kindes durch die Mutter oder seinem späteren Transport ins Hospital.
Puncto vier: abgeschnittene Nabelschnur. Beweist, dass die Mutter gerade nicht ihr Kind ermorden wollte, denn sonst hätte sie doch die offenbar vorhandene Schere als geeignetstes Mordinstrument verwendet; die Leiche wies jedoch nicht eine einzige Stich- oder Schnittverletzung auf.
Puncto fünf: schwarzer Streif unterm Kinn. Beweist, dass das Kind eine durch die eigene Nabelschnur erdrosselte Totgeburt war.
Was man der Angeklagten allenfalls vorwerfen könne, schloss er, das sei, das tote Kind verheimlicht und verborgen zu haben in der Hoffnung, die eigene Ehre zu retten.
So weit, so gut. Statt allerdings seine Schrift gleich per Post an die werten Collegae im Rat zu verschicken, wartete der Erasmus Senckenberg doch lieber bis zum folgenden Nachmittag. Da würde nämlich der Christian zu seinem edelmütigen monatlichen Pflichtbesuch kommen. Und der wird sich so herrlich ärgern, wenn der Erasmus ihm seine Verteidigungsschrift vorliest und ihm zum Überreichen an den Rat mitgibt. Und der arme Christian wird in eine schwere moralische Bedrängnis geraten, weil er zwar einerseits die Motive des Erasmus verabscheut, doch andererseits in
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