Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Gefangene als genesen gelten könne. Die Untersuchungsmethode vom Doktor Gladbach bestand darin, einen forschenden Blick durchs Fensterchen der verriegelten Zellentür zu werfen und die Susann zu fragen, ob sie sich für stark genug halte, ein paar hundert Schritt zu laufen?
«Ja», antwortet die Susann.
Was zur Folge hat − und sie hat das geahnt − dass sie am folgenden Morgen in aller Frühe aus ihrem Gefängnis abgeholt wird von einem Trupp Infanteristen und Dragoner, die sie abführen den Liebfrauenberg und die Neue Kräme hinunter und schließlich hinein in das Rathauslabyrinth, das sie in ihrem Leben nicht betreten hat bisher, wiewohl ja die Römerhallen zur Messezeit geöffnet sind für Kunden, nicht aber für solche Kunden natürlich – da stehen ja Wachen davor, die Pöbel und Gesindel draußen halten. Nur wenn er Verbrechen begangen hat, der Pöbel, dann wird er kurzfristig geadelt und darf auch einmal hinein ins Zentrum der Macht, nämlich insbesondere in den Verhörraum vom Peinlichen Verhöramt.
Der Susann fangen die Knie an zu schlottern beim Eintritt in den zugigen Römer. Dabei hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, an dem sie endlich, endlich nicht mehr allein sein wird mit ihrem Gewissen und dem Schrecken, wie sie es all die endlosen Wochen seit der Geburt war, sogar im Hospital. Denn so liebenswürdig die Schmidtin sie auch pflegte, mit ihr konnte sie nicht reden über das, was ihr im Kopf umherging. Es verbot sich, es war ihr in gewisser Weise der Mund zugeschnürt wie damals, als sie schwanger war – weil es unsäglich war zum einen, weil sie wusste, die Schmidtin wollte davon nichts hören, zum anderen. Gerade mal, dass sie mit ihr über ihre Schulden geredet hat beim Schuster Wetzel und über ihr schlechtes Gewissen, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hat trotz der schweren Lage der Familie (dabei hat sie übrigens von der Schmidtin erfahren, dass die Eheleute Wetzel inzwischen beide tot waren). Aber das war auch alles, was sie mit der Schmidtin hatte bereden können.
Sie hat es also herbeigesehnt, endlich mit jemandem sprechen zu können über das Furchtbare. Trotzdem ist sie jetzt schwach vor Angst, wünscht sich plötzlich, dass es nie weiter ginge mit dem Prozess und dass sie noch immer krank im Bett läge, ungestört, auf ewig in der Schwebe.
Drinnen wartet man auf sie mit einiger Neugierde. Der Jüngere Herr Bürgermeister und der Lindheimer sehen ihr Untersuchungsobjekt heut nämlich zum ersten Mal in persona , nachdem man im August und in den letzten Tagen bislang nur die diversen anderen Beteiligten hier im Amt vor sich hatte. Darunter zuletzt übrigens die Hechtelin, die Bauerin sogar gleich zweimal (da gab es ja Widersprüche, da gab es Merkwürdigkeiten, die mussten geklärt werden), sowie natürlich auch die neue Magd der Bauerin. Diese hatte ihre Vorgängerin Susann Brandin bekanntlich am Tag des Verbrechens noch kennengelernt. Sie hatte sich ziemlich lästerlich geäußert über das Mädchen, das so frech seinen dicken Schwangerenbauch vor sich her trug, behauptete aber wie alle anderen, von der einsetzenden Geburt rein gar nichts geahnt zu haben. (Wenn die Brandin ihr doch erzählt, sie hätt die schlimmen Leibschmerzen nur von der Ordinaire, da glaubt sie ihr natürlich!) Gewissenhaft, wie man beim Verhöramt war, hatte man sogar − als einzige Mannsperson − den Juden Bonum Zacharias geladen. Über den gab es ja einen verdächtigen Umstand zu vermelden, indem laut der Bauerin er es war, der die Angeklagte nach der Geburt vom Hof aus in die verriegelte Wohnstube gelassen hatte, damit sie nicht durch die Bierstube müsse auf dem Weg in die Küche (ein Umstand, den man erst nach Besichtigung der Bauerischen Räumlichkeiten gut nachvollziehen konnte). Der Bonum Zacharias hatte sich beim Verhör offenkundig vor Angst beinahe in die Hosen gemacht und sogar auf die nur der Form halber nötige Routinefrage, ob er die Angeklagte kenne, schon ausweichend geantwortet. Daher sah sich der Ratsschreiberassistent Rost nach Ende des Verhörs zu der Bemerkung veranlasst, er würde sich wundern, wenn der Jud nicht der Kindsvater und Mitwisser sei. Worauf ihm allerdings der Lindheimer giftig dazwischenfuhr: Wie er denn das beweisen wolle? Und der Siegner rief aus: «Rost, Er ist seit so vielen Jahren schon dabei, also bittschön, Er weiß doch, dass diese kleinen Juden immer irgendetwas zu verbergen haben vorm Verhöramt. Nun les er da mal nicht zu viel hinein.»
Der Rost
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