Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
sie gedacht hat, es ist so weit, es ist tot jetzt, kein Kind mehr, nie eins gewesen, ein lebloses Bündel nur. Wie sie langsam, ganz langsam den Griff gelockert und schließlich sanft losgelassen hat. Wie dann leise ein Röcheln kam aus der Kehle des Kindes.
Noch nicht ganz tot. Und Zeuge von allem, was seine Mutter ihm antut.
In der gleichen Sekunde hat sie es grob beim Arm genommen und so fest sie konnte mit dem Kopf gegen das Fass geschleudert.
Danach hat sie so gezittert, dass nichts mehr ging, nichts mehr, die Kraft war verbraucht, mit der sie all das getan hatte. Und sie hat sich, irr im Kopf, mit ihrem toten Kind im Arm, auf einen hölzernen Hauklotz neben dem Fass gesetzt und sich nicht mehr gerührt. Lange Zeit. Wie lange genau, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, ein ganze, sie weiß es nicht.
Nach und nach ist ihr etwas der Verstand wiedergekommen. Sie muss das Kind verbergen, hat sie sich gesagt. Jetzt, wo es passiert ist, kann sie doch nicht einfach so hier sitzen bleiben.
Doch sie ist so schwach. Und sie kann auch niemandem gegenübertreten, zitternd, blutbesudelt, mit einem toten Kind unter der Schürze und so tun, als wäre nichts. An den Main müsste sie und es in einem Sack verschnürt hineinwerfen, mit Steinen beschwert. Aber das schafft sie heute Abend nicht mehr.
Ein Versteck hier im Einhorn braucht sie also, eines, aus dem sie später die Leiche holen kann, wenn es ihr besser geht.
Das Fass.
Sie steht auf, schwindelnd, und lässt das Kind in das Fass hinab, vorsichtig, als könnte es sich was tun.
Dabei merkt sie allerdings, dass das Fass nicht wie sonst leer auf Wäsche wartet. Sondern es liegen Flaschen drin, sie weiß es jetzt auch wieder, die gehören einem Logiergast, der seinen teuren Wein hier kühl aufbewahren lässt. Und der kann morgen schon an seine Flaschen wollen.
Also heraus aus dem Fass mit dem Kind.
Herr Jesus. Was kommt noch in Frage? Die Jauchekübel vor den heimlichen Gemächern, aber da könnte man sie von den Fenstern aus sehen. Sie kann sich auch nicht gut vorstellen, das Kind in Jauche zu versenken. Es könnte auch wieder auftauchen. Jesus, sie müsste immer Angst haben, es würde wieder auftauchen und sie ansehen aus der Jauche. Der Main ist doch besser.
Vielleicht, wenn sie es erst mal in den Stall schafft. Der Eingang ist nicht weit von der Waschküche, schlecht einzusehen im Durchgang zwischen Vorder- und Hinterhof. Und draußen ist es ohnehin schon fast dunkel.
Sie wagt es und öffnet langsam die Waschküchentür. Kein Geräusch zu hören draußen. Keine Schritte, keine Stimmen in der Nähe, nur von weitem das übliche Stimmengewirr, das abends aus den Fenstern der Bierstube dringt.
Die Bierstube. Der Alltag. Wenn sie da nur wieder hin zurück könnte.
Sie wagt sich nach draußen. Doch auf den drei Stufen der Waschküche schon rutscht ihr das glitschige Kind aus den schwachen Händen und schlägt auf den Stufen auf. Sie zittert erbärmlich, bekommt es irgendwie wieder zu fassen und hoch, will schnell die gefährliche Strecke durchqueren und stolpert unterm Torbogen des Durchgangs prompt über die Deichsel des dort abgestellten Cabriolets. Sie fällt, das Kind fällt. Sie rappelt sich wieder hoch, hebt das leblose Kind auf, und bevor irgendjemand, von den Geräuschen aufgeschreckt, kommt, um nachzusehen, was hier vorgeht, schafft sie es in den Stall. Da ist es zappenduster. Sie will zur Krippe in der Ecke, stößt samt Kind irgendwo in der Dunkelheit gegen die raue Wand, schürft sich die Haut auf. Da sie nun rein gar nichts mehr schrecken kann, nimmt sie das tote Kind nochmals fester und schlägt es mit dem Köpfchen gegen die Stallwand, damit es nur ganz bestimmt richtig tot ist und nicht irgendwann schwer verletzt aufwacht.
Dann legt sie es unter die Krippe. Hinein ist doch zu gefährlich. Im Dunkeln tastet sie sich zu den Pferden, sammelt Streu auf aus den Ställen, die Tiere lassen sie ruhig gewähren, atmen sanft, auch ein bisschen Heu rafft sie aus der Pferderaufe zusammen, und bedeckt damit sorgsam nach und nach ihr armes, kleines totes Kind.
9. BIS 11. OKTOBER 1771
SIE HABE, vernahm man anlässlich ihres nächsten Verhörs von der Inquisitin, zur Beruhigung ihres Gewissens das letzte Mal die ganze Wahrheit gesagt. Was aber das Peinliche Verhöramt nicht hinderte, sie jetzt erst recht durch die Mangel zu drehen. Tagelang und unermüdlich. In allen Einzelheiten. Von den ersten Wehen bis zu ihrer Flucht am nächsten Morgen. Insbesondere
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