Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
hatte gehofft, bei dem Fest Herder kennenzulernen, von dem sie so viel gehört hatte. Doch die Straßburger Bekanntschaften Wolfgangs waren trotz Einladung alle nicht gekommen; die hatten eben, wie Herder in Bückeburg, zumeist schon irgendwo eine Anstellung und nicht die Muße, zum bloßen geistigen Vergnügen durch die Lande zu ziehen. (Übrigens war Herder ohnehin schon verlobt, mehr oder weniger jedenfalls, wie sie heute erfuhr.)
Es war also doch wieder nur eine Frankfurter Gesellschaft heut im Haus Zu den drei Leiern , und Wolfgang gab selbstverständlich den Ton an. Als Hoherpriester sozusagen des Shakespeare-Kults. So wirkte es jedenfalls, als er nach dem ersten Ständchen der Musikanten aufstand und feierlich begann, eine wunderschöne Lobeshymne auf den Meister zu deklamieren.
Der Klang seiner Worte war, anders als die Musik, nicht bis in den Katharinenturm zu hören. Bedauerlicherweise, muss man sagen. Denn eine gewisse dortige Gefangene hätte sich stärker als jeder der literarisch interessierten Herren im Haus Zu den drei Leiern angesprochen gefühlt von dem, was Wolfgang hier sagte.
Als er nämlich, die eigne Seele entblößend, davon sprach, Shakespeare erzähle in allen seinen Stücken von jenem geheimen Punkt, «in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt» – da hätte die Susann gewusst, was er meinte.
Vielleicht empfand das auch der Doktor beider Rechte Georg Schlosser so. Er war etwas verspätet eingetroffen zu der Feier, weil er beim Schöffengericht noch zu tun gehabt hatte. Irgendwie stellte sich in seinem Kopf eine Verbindung her zwischen Shakespeare und dieser gewissen Person. Und als die Fest-Liturgie beendet war und sich erste Grüppchen bildeten, da fing Georg an, Geschichten von der Kindermörderin im Katharinenturm zum Besten zu geben.
Und zwar hatte ihn der Claudy in die Akte sehen lassen.
Vor einem sich wohlig gruselnden Publikum (binnen Minuten hatte sich ein Grüppchen um ihn geschart) berichtet er von der unglaublichen, eiskalten Grausamkeit, mit der diese Mutter ihr Kind zugerichtet hat. Mit der Linken habe sie ihm das Gesicht zerkratzt, während sie ihm mit der Rechten an die Gurgel ging. Schlosser berichtet von den Stichen mit der Schere. Von dem Schlag mit dem Kopf gegen das Fass. Wie sie dann ungerührt sich ausgeruht habe mit dem ermordeten Kind auf dem Schoß. Wie sie es dann neuerlich gegen die Wand im Stall geschlagen habe, nur zur Sicherheit.
Cornelie braucht ein Glas Wasser. Ihr ist gar nicht gut. Wie konnte sie nur glauben, mit diesem Ungeheuer irgendeine Art von Gemeinsamkeit zu haben? Wie konnte sie die nur bedauern? Gott, was hat sie sich getäuscht. Sie hat ja wirklich überhaupt keine Menschenkenntnis. Eine Teufelin ist ja dieses Weib, eine Teufelin.
Als ihr wieder etwas besser ist – sie ruht sich auf dem Sofa aus, Rücken an der Lehne, Wasser in der Hand – da hört sie von weitem Georg Schlosser im leisen Zwiegespräch mit Wolfgang. «Bedauernswerte Person», hört sie, «todunglücklich», «tragische Zwangslage», «die Schwestern und die Dienstherrin … quasi dazu getrieben».
Ach was? Das macht neugierig. Cornelie rafft sich vom Sofa hoch und schlendert zu den beiden, die gleich neben dem Klavier stehen (was unglücklicherweise die Gefahr mit sich bringt, dass man sie zum Spielen auffordern könnte). «Kein Frankfurter», berichtet Schlosser gerade, «ein holländischer Goldschmiedsgeselle, den Namen sagt sie nicht, der nur vorübergehend hier war. So ein fröhlicher junger Wandervogel eben, der nicht vorhatte, sich fest zu binden, aber der sich offenbar gerne ein bisschen lieben ließ.»
Cornelie hat die Contenance vollständig wieder. Sie mischt sich ins Gespräch, indem sie fragt, wie das eigentlich genau gewesen sei mit der Dienstherrin der Kindermörderin. Inwiefern hat die sie dazu getrieben?
Wolfgang hörte gar nicht mehr zu. Es war nämlich jetzt an ihm, sich nicht gut zu fühlen. Gar nicht gut. Hatten ihn doch Georgs Worte vom «fröhlichen jungen Wandervogel», der sich ohne die Absicht fester Bindung gerne ein bisschen lieben ließ, auf die allerunangenehmste Weise an Friederike erinnert und an den heut morgen eingetroffenen Brief von ihr, der bis jetzt ungeöffnet in seiner Schreibtischschublade lag. Es muss ihre Antwort sein auf seine letzte Epistel, eine schändliche, er weiß es selbst, in der er auf gemeine Weise klargestellt hat: Es sei
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