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Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Titel: Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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sozusagen aus Edelmut den Ausweg aus der Verlobung ermöglichen wolle, da seine Praxis in Frankfurt noch nicht besonders lief und es bis zur Heirat viele Jahre dauern konnte. Also habe sie sich vorgestellt, dass er in Wahrheit todunglücklich in Frankfurt sitze und flehentlich darauf warte, dass sie ihm doch bitte, bitte ungefähr solches schreiben möge: Mein liebster Goethe, es rührt mich, dass du verzichten willst aus Angst, ich könnte mich hier grämen und mich gefangen fühlen in meinem einsamen Verlobtenstand, aber natürlich, natürlich geb ich dich nicht frei, niemals, weil ich dich zu lieb hab dafür und weil ein andrer nie in Frage käme und weil ich gut und gerne das eine oder andre Jahr warten kann auf dich, solange nur du es bist, auf den ich warte. Ja, sie habe schon angefangen, einen solchen Brief zu schreiben, so ungefähr nach einer Woche, als sie krank zu Bett lag − denn sie war allein im Regen spazieren gegangen nach Erhalt seines Schreibens, Stunden sei sie im Regen umhergeirrt, sie habe einfach rausgemusst, fort von ihrer noch ahnungslosen Familie, als würde sich’s lösen oder abwaschen lassen irgendwie draußen im Regen, als wär der Brief nicht mehr da, wenn sie zurückkäme. Da habe sie sich wohl einen Frost geholt. (Übrigens sei sie jetzt, drei Wochen später, noch immer sehr schwach, aber das hohe Fieber sei nun endlich unten, die Gefahr vorüber.) Als sie jedenfalls damals im Bett heimlich und ganz irr im Kopf auf ein Zettelchen die ersten Zeilen ihrer fehlgeleiteten Antwort kritzelte, kam Olivie hereingeplatzt und erwischte sie dabei. Und da habe sie es ihrer Schwester endlich gestanden, die Sache mit dem Abschiedsbrief, von dem sie bislang niemandem verraten hatte. Mit der Folge, dass Olivie in äußerster Erregung zur Schreibkommode am Fenster schritt, die vermaledeite Epistel aus dem Schubfach nahm, im Stehen durchlas und wutentbrannt damit hinunter zu den Eltern lief. Natürlich war das das Letzte, was Friederike gebrauchen konnte in dem Moment: das Entsetzen der Eltern, deren Bedenken sie immer zerstreut hatte wegen der allzu weit gehenden, rufschädigenden Zärtlichkeiten ihres Freundes, wegen beider gefährlicher Momente ganz allein, und das mit den Worten begründet hatte, sie habe vollstes Vertrauen in ihn, und der Gedanke sei gänzlich aus der Welt, dass der Sohn eines Kaiserlichen Rates und angehende Jurist und außerdem edelste, reinste, gütigste, klügste Mensch auf der Welt vorhabe, mit ihr ein gewissenloses Spielchen zu treiben und sie nach Entehrung sitzenzulassen.
    Natürlich zogen die Eltern es ebenfalls vor, diesen Gedanken fortzuschieben, ihn ins Reich der Märchen und Gruselgeschichten zu verweisen, und sie hatten sich damals nur zu gern von ihr abwiegeln lassen. Jetzt, nachdem die Katastrophe doch eingetreten war, besaßen sie glücklicherweise die Klugheit, auf die fiebernde, schwache Friederike nicht einzustürmen. Olivie allein war es, die die Treppen wieder hinaufkam ins Krankenzimmer. Sie bemühte sich, ruhig zu wirken, was ihr sehr schwer fiel. Im pädagogischen Große-Schwester-Ton brachte sie Friederike bei, dass der Wortlaut des Abschiedsbriefes, seine Leichtfüßigkeit sowie sein Zeitpunkt so bald nach Wolfgangs Abreise, eigentlich nur auf eine Weise gedeutet werden könnten: Der Lump habe sie schmählichst benutzt. Er habe eine Freundin gebraucht hier in Straßburg so zum Zeitvertreib und als Muse beim Gedichte Schreiben, doch er habe niemals beabsichtigt, sie zu heiraten.
    Genau das aber konnte leider Friederike immer noch nicht glauben. Obwohl sie es, als Olivie ihr den Brief nochmals vorlas, beziehungsweise seine eindeutigen Stellen, leugnen kaum noch konnte. Und dann fiel ihr dieses Gedicht von ihm ein, das er bei einem Sesenheimer Aufenthalt verfasst hatte: «Sah ein Knab ein Röslein stehn.» Gott im Himmel. Das Röslein, das war wohl sie. Wie konnte er ihr das nur antun?
    Es sei ein wenig ihr Glück gewesen, schrieb sie ihm jetzt, dass sie in der folgenden Nacht viel zu krank wurde, um die ganze Wucht dieser Erkenntnis spüren zu können. Fieberbedingt habe sie für einige Tage mehr der jenseitigen als der irdischen Welt angehört, was ihr auch ganz folgerichtig vorkam, und jetzt, da sie langsam genest wider Erwarten, da begreift sie es erst ganz: dass es wirklich vorbei ist. Und schlimmer, dass sie sich so sehr getäuscht hat ausgerechnet in dem einen Menschen, der ihr am liebsten war. Dass ausgerechnet der ihr so geschadet hat, sie so

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