Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
befürchtet hat. Und zwar ist es ihr ganz ungemein wichtig, sagt sie, dass etwas richtiggestellt wird, was sie in der Untersuchung falsch angegeben hat. Es stimme nämlich gar nicht, dass sie ihr Kindchen mit der Schere verletzt habe. Sie habe sich nur so bedrängt gefühlt im Verhör, habe das Gefühl gehabt, die Herren würden nicht eher ablassen von ihr, als bis sie sagt, sie hätte mit der Schere drauflosgestochen. Und so sei es eben gekommen, dass sie es fälschlich zugegeben habe.
Was natürlich ein großer taktischer Fauxpas von ihr war, belehrt sie der über so viel Dummheit entsetzte Schaaf. Zwar glaubt er ihr aufs Wort (schon bei der Lektüre des Verhörprotokolls hat er das Gefühl gehabt, dass mit den angeblichen Stichen was nicht stimmte, er hatte sogar eigens nachgesehen im Sektionsbericht und festgestellt, dass dort eigentlich nichts für Verletzungen mit einer Schere sprach). Aber ob ihr nun im Nachhinein die Herren vom Verhöramt glauben werden und die Syndiker, auf die es hauptsächlich ankommt, das ist höchst zweifelhaft: Wer einmal lügt, dem glaubt man eben nicht.
Apropos, sagt er der Angeklagten: Bei der Gelegenheit solle sie ihm bitte gleich mitteilen, ob sie auch noch an irgendeiner anderen Stelle zu weit gegangen sei mit ihren Aussagen. Dass man das alles gleich auf einmal richtigstellt und nicht etwa später ein zweites Mal komme und noch etwas zurücknehmen wolle, was bei den Syndikern dann einen noch schlechteren Eindruck machen würde.
Wie stehe es zum Exempel damit, dass sie im Verhör vorgibt, das Kind im Stall, als es schon längst tot war, noch einmal gegen die Wand gehauen zu haben mit dem Köpfchen? Das sei, wie die Sache mit der Schere, ein überflüssiger Akt der Grausamkeit, der ihr sehr zum Nachteil gereiche. Ob sie da vielleicht auch aus Bedrängung die Unwahrheit gesagt habe?
Die Susann überlegt. Hat sie das eigentlich wirklich getan, das Köpfchen gegen die Stallwand geschlagen? Ihre Erinnerungen an die Stunden nach der Geburt sind so fetzenhaft, sie kann manchmal die Albträume nicht von dem unterscheiden, was sie tatsächlich erlebt hat und was ihr genauso traumhaft erscheint in seiner Entsetzlichkeit. Sie überlegt also, versucht sich zu entsinnen an die Geschehnisse im Stall, wie sie im Dunkeln gegen die Wand gestoßen ist, und sie weiß jetzt wirklich nicht mehr ganz sicher, ob sie das Kind noch absichtlich an die Wand geschlagen hat oder ob sie nur aus Versehen, weil sie es im Arm hielt beim blinden Umhertappen, mit seinem Köpfchen an die Wand gekommen ist.
Und das sagt sie dem Schaaf.
Der stöhnt innerlich. Warum kann sie nicht behaupten, dass sie überhaupt nicht an die Wand gekommen sei mit dem Kind? Er weiß ja aus den Akten: Das Peinliche Verhöramt hat den Stall durchsuchen lassen auf Blutspuren, sowohl durch den Sergeanten Brand in der Nacht der Anzeige als auch durch den Rost kurz darauf, und bei all der peniblen Suche haben sich nirgends Blutspuren gefunden, insbesondere auch an der Wand nicht.
Die Einschränkung der Angeklagten jetzt, das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Wie mit der Schere: Die Nabelschnur will sie abgeschnitten haben damit, doch das Kind nicht gestochen haben, obwohl sie das Mordinstrument schon passend in Händen hielt? Das soll ihr einmal jemand glauben!
So beschließt der Schaaf auf dem Nachhauseweg, dass er in seiner zu verfassenden Eingabe an den Rat folgende kleinere Verschönerungen an ihrer Aussage vornehmen wird: Erstens wird er nicht nur das Stechen mit der Schere, sondern auch das Schneiden der Nabelschnur abstreiten. (Das klingt sonst zu sehr nach Planung der Geburt.) Zweitens wird er behaupten, die Angeklagte habe deshalb mehr zugegeben, als sie tatsächlich getan hat, weil sie sich so sehr vor der Folter gefürchtet habe. Jawohl, aus Furcht vor der Folter habe sie teils falsche Geständnisse abgelegt. Das klingt doch ein bisschen glaubwürdiger, nicht wahr, als nur, sie habe sich «bedrängt gefühlt».
Genau das sahen allerdings die Herren Lindheimer und Siegner etwas anders. Die nun wegen der Eingabe des Anwalts ärgerlicherweise zu einer weiteren Vernehmung der Angeklagten verdonnert waren und sehr gut wussten, dass sie ihr Folter niemals angedroht hatten. Warum auch. Die sprudelte ja wie ein Wasserbrunnen. Und übrigens war es, also bittschön, jetzt schon zwanzig Jahre her, dass man zuletzt wirklich einmal gefoltert hatte im Peinlichen Verhöramt der kaiserlichen freien Reichsstadt Frankfurt am Main.
Ein
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