Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
vorbei mit ihnen beiden.
Um sich die Laune für das Fest nicht zu verderben, hatte er die Post aus Sesenheim bei Straßburg lieber erst einmal nicht aufgemacht.
15. OKTOBER BIS 1. NOVEMBER 1771
DIE AM BESTEN bezahlten Amtspersonen in der kaiserlichen freien Reichsstadt Frankfurt am Main waren die Syndiker. Das waren jene juristisch äußerst gelehrten Herren (ihres Zeichens hochedelgeboren, wohlweise und dergleichen), die nach einer Inquisition − nun, nicht gerade das Urteil beschlossen, aber eben ein Gutachten schrieben, wie geurteilt werden sollte. Und diesem Gutachten pflegte sich der Rat in seinem Urteil zumeist anzuschließen.
Der erste Schritt auf diesem Wege war, dass die Herren Syndiker einen Blick in die Akten warfen und feststellten, ob denn die Untersuchung tatsächlich als abgeschlossen gelten und somit der nötige städtische Verteidiger für die Angeklagte bestellt werden könne. Zur klammheimlichen Freude vom Ratsschreiberassistenten Rost erwies sich nun im Fall der Brandin, dass die Herren Syndiker mit der Arbeit von Siegner und Lindheimer nicht so recht zufrieden waren! Und das, obwohl die Angeklagte es dem Verhöramt wahrhaftig nicht schwer gemacht hatte, sodass es sich hier um einen derart klar bewiesenen Fall von Kindsmord handelte, wie man ihn aus der Literatur kaum kannte. (Die stritten doch sonst immer ab, die Mörderinnen.) Allerdings – monierten die Syndiker − gebe es Anzeichen, dass womöglich nicht der mysteriöse Holländer, sondern ein Jude der Kindsvater sei, was gefälligst näher untersucht gehöre. (Hatte er, Rost, das nicht gleich gesagt: Dieser Jude Bonum Zacharias schien mehr als verdächtig!) Und die Schwestern der Angeklagten, die hatte man grob fahrlässig nicht einmal mehr neu einbestellt, nachdem doch aus der Aussage der Angeklagten hervorging: Sie hatte den Schwestern am Morgen nach der Tat alles gestanden. Also hatten beide im Verhör gelogen, als sie behaupteten, zu diesem Zeitpunkt noch völlig ahnungslos gewesen zu sein.
Etc.
Allerdings ließen Lindheimer und Siegner die Kritik nicht auf sich sitzen. Lindheimer entwarf ein mit Literaturhinweisen gespicktes, etwas hochnäsiges Schreiben, aus dem sich klar ergab, warum eine weitere Untersuchung juristisch zu nichts führen würde und in der Sache auch nicht angezeigt sei. Im Übrigen sei die Angeklagte bei fragiler Gesundheit, und es gezieme sich keineswegs, den Abschluss des Inquisitions-Prozesses noch weiter hinauszuzögern. Lediglich der Empfehlung der Syndiker, nunmehr endlich den von ihr wieder und wieder erbetenen Geistlichen zu der Angeklagten zu lassen, der wolle man gern folgen.
Die Ratsherren, von Siegner beraten und beredet, segneten das pragmatische Vorgehen ihres Jüngeren Herrn Bürgermeisters und seines Amtes ab.
Endlich. Gott sei Dank. Zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung vor drei Monaten bekam die Susann Besuch von Personen, die nicht dem Peinlichen Verhöramt angehörten.
Der erste Besucher war der Pfarrer Willemer von der Hospitalkirche. Den nahm der Zustand der armen Sünderin so mit, dass er nicht lange blieb. (Es war ohnehin zu spät!)
Der zweite war der hochgelehrte Herr Doktor beider Rechte, Advocatus ordinarius und nunmehr obrigkeitlich bestellte Verteidiger der Angeklagten M.C. Schaaf.
Nach sorgfältigem Aktenstudium − du meine Güte, was ein harter Brocken, wie sollte er die denn verteidigen!− suchte der aus einer guten alten Ratsfamilie stammende Dr. Schaaf schließlich seine Mandantin auf. Wovor ihm etwas graute, nicht nur wegen der Tatsache, dass es sich immerhin um eine brutale Mörderin handelte. Er fürchtete sich auch, von der Person händeringend und tränenreich angefleht zu werden, er möchte sie vorm Henker bewahren, so als könnte er über Tod oder Leben entscheiden. Der Pöbel ist ja leider oft geistig kaum in der Lage zu begreifen, wie wenig Macht ein Pflichtverteidiger besitzt in der städtischen Kriminalgerichtsbarkeit. Im Übrigen hat sich der Dr. Schaaf schon des Häufigeren ärgern müssen über hartgesottene Verbrecher, die jahrelang reulos ihrem Metier nachgegangen sind und am Ende meinen, sie hätten ein Recht darauf, irgendwie um ihre Strafe herumzukommen.
Nun verläuft aber sein Besuch im Weiberstübchen vom Katharinenturm ganz anders als erwartet.
Indem die Angeklagte zum einen nicht gerade hartgesotten oder fordernd wirkt und zum anderen ihn zwar sehr wohl mit einiger Verzweiflung um etwas bittet − aber um etwas anderes, als er
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