Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
schamlos benutzt hat, dem sie am meisten vertraut hat. Sie wisse nun nicht, wie sie jemals wieder irgendjemandem trauen solle.
Nichts von ihrem Leid ersparte also Friederike ihrem Goethe in dem, was de facto ihr Abschiedsbrief war, weil sich nun jede weitere Korrespondenz verbot. Zum Bedauern Wolfgangs, der eine angeregte, leicht pikante Brieffreundschaft mit der süßen Friederike gerne weitergeführt hätte, nur eben nicht unter dem Siegel «Verlobung». Und weil er die Kleine wirklich geliebt hatte und noch immer ein bisschen liebte und es zu zweit immer sehr schön gewesen war, traf ihn das tief, ebenso wie ihr Leid, wiewohl er es sehr vorgezogen hätte, wenn sie ihm dieses Leid in dem Brief nicht in epischer Breite vorführte. Ihn so völlig zum Schuft zu stempeln damit, dass er sich tatsächlich wie einer fühlte, tagelang, wochenlang … er wünschte, er könnte sich sagen, das hätte er nicht verdient.
Aber das hatte er ja eigentlich doch auch nicht! Wenn nämlich statt seiner sie das Verhältnis beendet hätte, kein Hahn würde danach krähen oder ihr einen Vorwurf draus machen.
Es war natürlich auch eine völlig überzogene Reaktion seiner übersensiblen Phantasie, dass ihm immer mit einem Stich seine Sünden an Friederike einfielen, wenn das Gespräch auf diese furchtbare Kindsmordsache kam. Der Fall hielt derzeit die ganze Stadt in Atem. Die Grausamkeit des Verbrechens interessierte und die rätselhafte Person der Täterin, dieser an sich recht anständigen Dienstmagd, die das Pech hatte, sich mit einem Wandervogel eingelassen zu haben. Was ihr Verderben war.
Heut zum Beispiel, wusste man, fand das nachträgliche Verhör mit der Angeklagten statt. Jenes, das anberaumt werden musste wegen ihrer gegenüber dem Anwalt gemachten Behauptung, sie habe doch nicht herumgestochen in ihrem Kind mit der Schere, sie habe das nur behauptet, um der Folter zu entgehen.
Eine Skandalgeschichte also in jeder Hinsicht. Gerade die Sache mit der Schere hatte ja das Blut in Wallung gebracht in der Stadt – diese Kälte, dieses Widernatürliche. Ein Weib, eine Mutter, die brutal auf ihr eigen Fleisch und Blut einsticht, das musste Entsetzen erregen. Die verbreitetste Ansicht war nun, dass es sich bei dem Widerruf um einen bloßen Trick ihres Anwalts handelte. Andere munkelten, dass man sie tatsächlich mit Folter bedroht, ja ihr die Folterwerkzeuge schon gezeigt habe. Und warum auch nicht. Einem Peinlichen Verhöramt, das ein totes, verwesendes Kind ausgraben lässt und der Mutter vor die Nase hält zum Erpressen eines Geständnisses, dem konnten, fanden einige, solche Methoden nur recht und billig sein.
Wolfgang wollte die berühmte Verbrecherin heut einmal mit eigenen Augen sehen. Denn das interessierte ihn schon, wie sie aussah, wie jemand wirkte, der eine solch haarsträubende Tat begangen hat. Der derart aus der Banalität des alltäglichen Lebens herausgefallen ist. Als Dichter muss man sich auskennen mit den Abgründen der menschlichen Seele.
Und Dichter, das hoffte er zu werden. Hauptberuflich. Anwalt jedenfalls mochte er nicht mehr sein. Das war das andere, was ihm seit Mitte Oktober dumpf auf der Seele drückte: Er kam mit seinen wenigen Anwaltspflichten nicht zurecht. Immer klarer wurde es, dass es keine Zukunft hatte mit seiner Kanzlei; jetzt schon hatte er sich ja überworfen mit ein paar wichtigen Leuten vom Schöffengericht, diesen Kleingeistern und Krämerseelen, die fanden, dass er zu frech auftrat, zu wenig klüngelte mit ihnen im Gasthaus Zum Kreuzchen . Das Letzte, was er sich im Moment für seine Zukunft vorstellen konnte, das war ein saures, enges Frankfurter Leben, das aus Anwaltstätigkeit bestand und als größter Ambition einem miefigen Ratsposten. Dummerweise genau das, was dem Vater für ihn vorschwebte.
Doch es ging ihm, wie gesagt, inzwischen schon besser.
Und zwar deshalb, weil er endlich mit seinen Dichterplänen ernst zu machen begann. Wollte er ehrlich sein, er hatte sich das schon fast nicht mehr getraut nach seinem Misserfolg damals in Leipzig, als er für seine in jugendlicher Unbekümmerung hingehauenen, aber doch recht wohl gelungenen «Mitschuldigen» keinen Verleger gefunden hatte. Jetzt aber war er voll neuen Mutes. Das Schwesterchen, die Kluge, hatte ihn spöttisch herausgefordert, nicht mehr immer nur vom Schreiben zu reden, sondern es auch zu tun. Mit dem Effekt, dass er ihr zum Beweis ein paar Szenen niederschreiben musste . Und siehe da, einmal angefangen, floss es
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