Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Unzurechnungsfähigkeit würd ich plädieren im Moment der Tat. Dass der Verlust der Stellung zu viel für sie war, nach all den Sorgen, und als ausgerechnet dann auch noch die Wehen einsetzten … die war doch wirklich nicht mehr Herr ihrer Sinne, als das Kind kam. Dafür spricht vieles. Zum Beispiel, dass sie das Gefühl hatte, vom Satan Einflüsterungen zu bekommen. Und dass sie mit dem toten Kind auf dem Schoß ausgeruht hat. Ist das nicht das Verhalten einer Wahnsinnigen?»
«Verstört und verheert im Kopf», murmelt Cornelie, «sagt sie das nicht?»
«Ja, ich glaube ja», antwortet Georg. «Doch, das wäre eine brauchbare Verteidigung. Mit etwas gutem Willen, ohne den geht es freilich nicht in diesem Fall. Sollten die Syndiker von der Todesstrafe abraten, dann werden sie zweifellos noch ein auswärtiges Gutachten zur Bestätigung verlangen. So eine Entscheidung wagt man nicht allein zu fällen. Die Todesstrafe nicht zu verhängen bei so einer Tat, nach vollem Geständnis. So ist es in der Juristerei, die ehrlichen, reumütigen Leute haben das Nachsehen.»
Wolfgang hörte nicht mehr zu.
Der Verführer im Bund mit Mephisto. Einflüsterungen vom Satan. Wie war das noch, was hatte die Brandin erzählt: Der Satan hat ihr den Mund zugehalten, dass sie nicht sagen konnte, sie sei schwanger. Der Satan wollte sie das Gaubloch hinunterstoßen. Ihr schien es, als ob was im Wein gewesen wäre, das sie willenlos machte.
Du lieber Gott. Da hat er’s. Das ist es doch, wonach er so lange gesucht hat: Ein hochdramatischer, wirklich bewegender Stoff, mit dem er im Faust die Episödchen ersetzen kann. Die Kindsmord-Tragödie ließ sich ja wunderbar einbauen! Gretchen, verführt von Faust mit mephistophelischer Hilfe, bringt ihr Kind um und landet im Kerker. Den Faust reut es, doch es ist zu spät. Besser ging es nicht.
Dieser «Faust» würde sein Durchbruch werden! Jawohl, dieses Drama würde ihm endlich einmal gelingen – nachdem er mit seinem Götz, kaum und in Windeseile zu Papier gebracht, schon wieder unglücklich war. Von Herders herber Kritik gar nicht zu reden. Er traute sich gar nicht, das einem Verleger zu schicken.
FREITAG, 10. JANUAR 1772
«DASS ES lange dauert, ist ein gutes Zeichen. Die sind sich nicht sicher oder nicht einig. Ein klares Todesurteil geht immer schnell.»
Das hatte schon am siebenten Januar die Frau vom Richter Weines gesagt, als sie der Susann das Essen reichte. Wenn ihr Mann nicht da war, setzte sie sich öfter mal den Stuhl in die Zelle zur Handarbeit. Das arme Ding brauchte schließlich Ablenkung. Und Besuch dürfte sie ja sonst keinen kriegen außer dem Pfarrer Willemer.
Für die Susann waren es Wochen ohne Zeit. Sie wartete. Und manchmal, da hoffte sie.
Seit dem zweiten Januar hofft sie hauptsächlich. Und am Ende der zweiten Januarwoche, da ist sie vor Hoffnung schon fast trunken. Denn es scheint ja so, dass sie nun bald erlöst wird aus ihrer monatelangen, drückenden Angst vorm Henker. Sie freut sich geradezu, dass es bald so weit ist, dass der Tag bald kommt, da ihr − höchstwahrscheinlich − mit ein paar Worten diese quälende Angst genommen werden wird. Denn es muss doch eigentlich so kommen. Es kann doch nicht wirklich sein, dass diese eigentlich freundlichen Amtspersonen, die ihr kein Haar gekrümmt haben bislang, dass die sie ermorden lassen. Ach, wenn es doch nur so käme. Nie wieder wird sie sich über irgendetwas oder irgendjemanden beschweren oder jammern, wenn ihr nur jetzt das Leben geschenkt wird.
Am zehnten Januar früh kamen Soldaten zu ihr auf den Katharinenturm.
«Befehl des Jüngeren Herrn Bürgermeisters, die Inquisitin aufs Amt zu führen. Zur Urteilsverkündung.»
Beim Gehen zittern ihr natürlich wieder die Beine. Auf dem Amt, da fängt es irgendwie schlecht an – da sitzen auf den Stühlen vom Siegner und vom Lindheimer unbekannte Personen (weil nämlich in Frankfurt mit dem Jahreswechsel auch so manche Pöstchen wechseln von der einen Ratsherrenhand in die andere). Darauf war die Susann nicht vorbereitet, obwohl sie es mit etwas Nachdenken hätte wissen können. Zum eigenen Erstaunen fehlt ihr der Siegner, ja beinahe fehlt ihr sogar der Lindheimer, und der Claudy, du lieber Herr Jesus, der ist tatsächlich auch wieder nicht dabei. Kann es denn sein, dass ihr das Urteil nun verkündet wird von Menschen, die sie gar nicht kennen, die den Weg nicht mit ihr gegangen sind?
Ihr Verteidiger ist immerhin anwesend, der Dr. Schaaf (aber da gibt sie
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