Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
lutherisch-logisch klingend, dass er selbst glaubt, was er da ins Blaue erzählt. Das Kindlein, das sehe ihr schon seit Monaten aus dem Himmel zu. Mit Liebe sehe es ihr zu, weil es ihr längst verziehen habe.
Die Susann hört die Worte und ist froh, dass er ihr das sagt und nicht etwas anderes. Aber sie spürt es nicht, dass das Kind ihr verziehen hat. Denn sie war, anders als der Pfarrer Willemer, dabei, als sie ihr Kind ermordet hat, und sie kann alles noch fühlen, die rohe Gewalt, die Kälte, ihre unmenschliche Raserei. Das Röcheln hört sie noch und das dumpfe Geräusch, als das Köpfchen gegen das Fass knallte.
«Es wird Ihr vielleicht noch lange von oben zusehen, das Kind», bemerkt der Pfarrer zum Schluss. Er habe nämlich den Herrn Verteidiger getroffen heut früh, und der scheine hoffnungsvoll, dass er sie losbekommen könne von der Todesstrafe.
Tatsächlich war er das.
Der Dr. Schaaf hat für seine Verteidigung nach langem Nachdenken die einzige Taktik gewählt, die ihm versprechend schien nach einem vollen Geständnis. In gewisser Weise war es ein Trick, der aber vielleicht in einem solchen Fall umso eher zum Ziel führte. (Und wenn nicht, war’s auch egal. Hauptsache, er wies hier nach, dass er ein gewiefter Jurist war. Auf dass man ihn hoffentlich im Rat schon für den nächsten frei werdenden Syndikerposten ins Auge fasste.)
Und zwar hat er den jetzigen Herren Syndikern, die ja ihr Urteil nach bloßer Aktenlage fällen würden, ohne also die Person, um die es ging, je gesehen zu haben, er hat ihnen die Susann Brandin als Mensch vorzustellen versucht. So wie er sie kennengelernt hat; mit ihren unleugbaren moralischen Schwächen, aber auch mit den großen moralischen Stärken, mit ihrer offensichtlichen Reue, die er stark empfunden hat an ihr. Und er hat den Herren Syndikern begreiflich zu machen versucht, in welcher verzweifelten Zwangslage sich diese Angeklagte eigentlich befunden hat – insbesondere am Tag der Geburt, als sie sich stellungslos fand, im Besitz von nichts als dreißig Kreuzern und ohne Aussicht auf Wiedereinstellung mit einem Kind.
Nicht, dass das juristisch irgendetwas zu bedeuten hätte: o nein. Kindsmord war Kindsmord nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung, und Mord war Mord, da halfen einem noch so verständliche Motive gar nichts.
Was der Schaaf hier beabsichtigte, das war lediglich, die Herren Syndiker in günstige Stimmung zu versetzen gegenüber der Angeklagten. Verständnis und Mitleid wollte er erregen bei ihnen, sodass sie bereit wären, ihm zu folgen bei dem, was er ihnen außerdem noch anbot: ein paar juristische Schlichen nämlich, wie es möglich wäre, trotz des vollen Geständnisses und ganz legal die Angeklagte für unschuldig und den Mord für nicht geschehen zu erklären.
Und zwar mit Hilfe folgender kunstsinniger Argumente:
Erstens: Die Angeklagte habe ihre Schwangerschaft zwar aus weiblicher Schamhaftigkeit nie ausgesprochen – aber zugleich auch nie verhehlt! Hatte sie sich nicht immer wieder bereitwillig untersuchen lassen? Zudem musste sie bis zum Schluss selbst bezweifeln, ob sie überhaupt schwanger sei, weil die Untersuchungen nichts Klares ergaben.
Zweitens: Die Lungenprobe sei nach Meinung zahlreicher Ärzte und Juristen ungeeignet, um zu beweisen, dass das Kind eine Lebendgeburt war. Vielmehr sprach ja alles für eine Totgeburt! Man musste nur rechnen: Das Kind war nicht einmal ganz ausgetragen, übrigens hatte es bei der Geburt nicht geschrien, und dann war es auch noch auf den Waschküchensteinen aufgeprallt … das Wahrscheinlichste war demnach, dass es zum Zeitpunkt des «Mordes» gar nicht mehr gelebt hatte.
Drittens: Das Geständnis der Angeklagten sei in jeder Hinsicht anzuzweifeln. Denn in vielen, allzu vielen Einzelpunkten könne man nachweisen, dass die Angeklagte aus ihrem gutwilligen Charakter heraus immer genau das gesagt habe, was die Ermittler von ihr hören wollten – auch wenn dies sachlich falsch war und ihr zum Nachteil gereichte. Und er führt verschiedene Beispiele an: die Geschichte mit der Schere natürlich (der Sektionsbericht beweise ja, dass auf das Kind niemals eingestochen wurde) und ganz besonders auch die scheinbar selbstverständliche Tatsache, dass die Angeklagte, konfrontiert mit dem toten Kind, dieses identifiziert hat. Wenn man hierüber nachdachte, dann wurde einem klar: Das war wiederum eine ihr nachteilige, nur aus Gefälligkeit und Reue gesagte Unwahrheit. Denn wie hätte sie denn das Kind als
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