Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
sich das Maul schaumig geredet vor Entsetzen über die Rabenmutter und Erzhure und hätten der Mörderin tausend Martern an den Hals gewünscht. Aber was er jetzt so höre, da gebe es viele, denen tue sie leid, die schimpften schon, dass sie auf dem Amt so hart rangenommen werde und im Kerker sitzen müsse. Die Leut täten inzwischen gerade so, als wäre sie ein unschuldiges Opfer und nicht eine Verbrecherin, und neulich habe er sogar ein Lied gehört auf der Straße, da werde sie gepriesen, dass sie den Namen von ihrem Liebsten nicht verraten habe. «Ei, wenn man die jetzt köpft, öffentlich», schloss er, «das kann Aufruhr geben, da wett ich keinen Pfifferling mehr auf die Ordnung in der Stadt.»
Man vernahm zustimmendes Murmeln aus einer adeligen Ecke der Schöffenbank. Etwas lauter drangen von der zweiten Bank die Worte: Der Pfarrer Willemer habe vor Wochen schon gesagt, er bete, dass der Kindermörderin der Tod erspart bleibe, und der müsse es doch wissen, ob sie der Begnadigung würdig sei, der kenne sie am besten.
Worauf endlich der Lindheimer, dessen Mund wie ein Fischmaul stumm auf- und zugegangen war schon während der Rede des Damenschneiders, seine Stimme und Gedanken genügend beisammen hatte, um alledem überlegen zu begegnen.
Er hätte zu gern gewusst, begann er klar und kalt, seit wann denn Bänkellieder, Pöbels Meinung und persönliche Sympathien über Recht und Unrecht entschieden. Seines bescheidenen Wissens nach, und er sei ja nur Jurist, müsse auch eine Begnadigung immer eine juristische Begründung haben; wo kämen wir sonst hin, da bräche ja die reine Willkürherrschaft und Vetternwirtschaft aus andernfalls. Und diese juristische Begründung könne nur auf Umständen beruhen, die den jeweiligen Fall als einen minder schweren seiner Art erscheinen ließen. Er wüsste doch zu gern, welche Gründe das bei der Brandin sein sollten.
Das zustimmende Gemurmel aus Juristenmündern war nicht zu überhören.
Wiewohl einer, nämlich der letztjährige Jüngere Bürgermeister Dr. Siegner, auffällig still war, zurückgelehnt in seiner Bank, den Finger kratzend unter der Perücke. Er mischt sich nicht ein, beschließt er. Also bittschön, er hat doch seinen Teil schon beigetragen, er hat das schuldige Schäfchen hingeliefert zum Henker. Den Rest, den sollen jetzt die anderen unter sich ausfechten, nachdem nun glücklicherweise er nicht mehr verantwortlich zeichnet fürs Peinliche Verhöramt. Er ist wirklich froh, dass nicht er es ist, der den letzten Schritt herbeiführen muss in der leidigen Sach, die juristisch so klar ist, aber unappetitlich eben doch in manch anderer Hinsicht.
Der Textor (junior) dozierte inzwischen in Fachchinesisch über die juristische Lage. Und er kannte als Nachfolger seines Verwandten Lindheimer im Amt des Examinator ordinarius natürlich die Akten: «… müssen die Herren sich im Klaren darüber sein, dass bereits die Hinrichtung mit dem Schwert de jure eine Milderung darstellt, obwohl sie bei uns stets die poenia ordinaria vertritt, jedoch im Fall der Inquisitin Brandin, da sogar ernste Gründe für eine Strafverschärfung vorliegen, also hier die Schwertstrafe schon höchstens gnadenhalber …»
«Hochedle Collegae, darf ich mir erlauben, zusammenzufassen.»
Das war der alte Schlosser, ein Ratsveteran. Und er fasste zusammen, so, dass auch der Damenschneider verstand.
«Auf Kindsmord steht die Todesstrafe, gleich, unter welchen Umständen er geschieht. Eine Begnadigung, das ist etwas für minder schwere Fälle. Nun haben wir hier aber keinen minder schweren, sondern einen besonders schweren Fall vor uns: Der Mord war lange geplant, er war auf schauerliche, grausame Weise ausgeführt. Die Mörderin ist überdies danach zur Strafvereitelung geflohen. Hochedelgeborene Collegae, wenn wir hier begnadigen, dann setzen wir einen Präzedenzfall, der geeignet ist, am Ende alle Rechtsordnung zu untergraben.»
Er hatte recht – leider. Auch Dr. Siegner stimmte bei der folgenden Abstimmung, wie alle Juristen und die meisten anderen, gegen die Begnadigung. (Er weiß selbst nicht, was ihn da vorhin geritten hat, dass er alter Hase bei der Rede des Schneiders doch tatsächlich einen Wunsch in seinem Herzen sich regen spürt, die Brandin möge davonkommen mit ihrem Leben. Und das, nachdem er zuvor selbst so hart dran gearbeitet hat, dass sie es nach Recht und Gesetz verliert.)
Nach der Abstimmung aber mischt sich der Siegner doch noch ein.
«Ich möchte
Weitere Kostenlose Bücher