Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
das Ihrige erkennen sollen? Neugeborene, unabgewischte, talg- und blutverschmierte, sind einander ohnehin sehr ähnlich. Selbst wenn sie ihr Kind nach der Geburt genauestens besehen hätte, wäre sie also schwerlich in der Lage gewesen, es Tage später in dem durch die Sektion entstellten, wieder ausgegrabenen Leichnam sicher zu erkennen. Sie hatte ihr Kind aber nicht einmal besehen oder überhaupt gesehen nach der Geburt. Vielmehr hatte sie im Dunkeln geboren und im Dunkeln das Kind abgelegt. Es sei schlicht nicht möglich, dass sie die ihr vorgelegte Leiche tatsächlich erkannt habe. Man könne ihr also weder diese Aussage zu ihrem Nachteil glauben noch folglich irgendeine andere.
Fazit: Die Brandin habe ihr Kind wahrscheinlich gar nicht getötet und könne dafür auch nicht verurteilt werden. Ebenso wenig dafür, dass sie schamhaft ihren eigenen Schwangerschaftsverdacht verschwieg, während sie gleichzeitig ärztliche Untersuchungen erlaubte. Sie könne nicht einmal für heimliche Geburt belangt werden, da sie nachweislich nur um die Asche fortzubringen zur Waschküche gegangen und dann dort ohne ihre Schuld von den Geburtswehen überrascht worden sei.
Für diese schöne Verteidigungsschrift trug am 27. November der Ratsschreiberassistent Rost die Empfangsbestätigung ins Protokoll ein und ließ das Ganze sogleich, mit sämtlichen anderen Akten, den Herren Syndikern zukommen.
Auf dass die ihre Urteilsempfehlung kundtäten, und zwar noch vor Weihnachten.
27. DEZEMBER 1771
GEORG SCHLOSSER ging jetzt Goethes sehr viel häufiger besuchen als sein Bruder Hieronymus. Zum einen weil er sich gemeinsam mit Wolfgang die Mitarbeit bei den Frankfurter Gelehrten Anzeigen aufgehalst hatte, die ab Januar in neuem Format erscheinen sollten. Zum andern, weil er, anders als Hieronymus, nicht verheiratet war. Noch nicht.
Und es gab ja im Haus Zu den drei Leiern eine sehr interessante Tochter.
Wolfgang glaubte allerdings, Georg komme ausschließlich seinetwegen. Ebenso nahm er an, dass es seine eigene und nicht Cornelies Besessenheit von dem Brand-Prozess sei, die Georg immer wieder dazu antrieb, in die Akten zu blicken und interessante Ausschnitte im Haus Zu den drei Leiern zu referieren. Solange es ging jedenfalls. Solange die Sachen im Amt verwahrt wurden und nicht, wie seit gut vier Wochen, in sämtlichen Kopien zur Begutachtung kursierten. Von der Verteidigungsschrift war bislang nur durchgesickert, dass Schaaf befunden hatte: Die Inquisitin sei möglicherweise «mehr unglücklich als lasterhaft».
Heute endlich hatte Georg, der pünktlich am ersten Arbeitstag nach Weihnachten im Gericht gewesen war, wieder eine Neuigkeit anzubieten.
«Lanz hat es doch noch geschafft, vor Weihnachten abzugeben», berichtete er. «Am dreiundzwanzigsten, kurz vor knapp.»
Lanz, seines Zeichens Syndiker, war der Hauptgutachter. Und zwar, weil er der Jüngste war vom Syndikat; da bekam er natürlich die meiste Arbeit zugeschanzt. Auf ihn kam es an.
«Und? Nun spann uns nicht auf die Folter, Schlosser!», rief Wolfgang und zugleich Cornelie: «Oje! Was schreibt Lanz?»
«Tut mir leid, ich weiß es nicht. Rost hat mir gesagt, er hat selbst nicht reingeschaut, sondern alle Kopien sofort an die anderen Syndiker weitergereicht. Die müssen jetzt nur noch absegnen, das wird schnell gehen. Aber vor dem zweiten Januar werden wir natürlich nichts hören. Das arme Mädchen, muss so lange warten auf ihr Urteil.» Er tauschte einen Blick mit Cornelie. Wolfgang, mit Blindheit geschlagen, hatte wieder mal den Eindruck, dass Georg verändert wirkte in letzter Zeit. Der war gar nicht mehr so trocken und hart wie früher. Merkwürdig.
Er lehnte sich zurück. «Ich wüsst ja, wie ich sie verteidigen würde.»
«Ach. Wie denn? Willst du behaupten, dass es tatsächlich der Satan war, der ihr die Hand geführt hat? Oh, ich sehe, wir kommen hier in dichterische Gefilde. Vielleicht war der Schwängerer mit dem Mephistopheles im Bunde und hat die Brandin mit Hilfe von Höllenmächten zum Beischlaf verführt.»
Du lieber Gott, jetzt wurde der ernste Georg sogar humorig, und das auf Wolfgangs Kosten. Wolfgang ärgerte sich etwas über diese unerwartete Stichelei. Es galt wohl inzwischen schon als ausgemachte Sache unter den Schlosser-Brüdern, dass seine Plädoyers sich zu literarisch anhörten und die rechte juristische Langweilerei vermissen ließen.
«Unsinn», schoss er zurück, «noch kann ich Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten. Nein, auf
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