Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
den Kaffeetisch. Die ganze Familie – und Georg Schlosser.
Der hatte wieder einiges zu erzählen heute. Denn diverse Schlossers steckten ja (wie auch die eigenen Goetheschen Verwandten Lindheimer und Textor, die man aber bei Goethes wesentlich seltener zu Gesicht bekam) mitten drin in dem städtischen Kindsmorddrama. Sogar in den geschäftigen Vorbereitungen für den letzten, hochfeierlichen, zeremoniellen Akt, wie Georg gerade berichtet.
«Tags drauf kommt also der Scharfrichter Hoffmann zu uns in die Kanzlei und sagt zu Hieronymus: Herr Doktor Schlosser, mir ist eingefallen, es wäre viel günstiger, wenn nicht ich das Schwert führe bei der Hinrichtung, sondern mein Sohn.»
«Was?», platzt Wolfgang heraus. «Der Arzt? Der soll Scharfrichter spielen? Na, das wird einen Tanz geben im Rat!»
«Unerhört», meldet sich Vater Goethe, «unerhört, da sieht man, was passiert, wenn man ehrlose Familien in ehrenhafte Berufe lässt.»
Der Sohn des Scharfrichters Hoffmann hatte nämlich die Impertinenz besessen, trotz der Unberührbarkeit seiner Familie Medizin zu studieren und in Frankfurt die Ärztezulassung zu beantragen. Und diese hatte man ihm nach jahrelangem Rechtsstreit dank der Klugheit und Beharrlichkeit seines Anwalts Hieronymus Schlosser schließlich auch gewährt. Zum Entsetzen beispielsweise von Dr. J. Christian Senckenberg, der, wenn er dem ehrlosen Kollegen begegnete, stets die Straßenseite wechselte.
«Doch nicht der Arzt. Um Himmels willen, das würde freilich nicht gehen. Nein, ein andrer Sohn, Abdecker und Scharfrichter in Groß-Gerau. Hat allerdings noch nie eine Hinrichtung gehabt. Der soll sozusagen jetzt üben an der Brandin.»
« Mais c’est l’horreur », entfuhr es Cornelie. Eigentlich wollte sie sich diesen beliebten Ausruf als zu affektiert abgewöhnen. Aber jetzt rutschte er ihr doch wieder heraus.
«Na, ich habe jetzt übertrieben mit dem Üben. Keine Sorge, Cornelia, das wird schon gutgehen. Beim Vater Hoffmann ist die letzte Hinrichtung mit dem Schwert auch schon viele Jahre her, außerdem ist er jetzt über fünfzig, und der Sohn, der ist ein großer, starker junger Mann. Für so einen Schwerthieb braucht es ja weniger Übung als Kraft, um gleich beim ersten Mal den Hals ganz durchzutrennen. Wenn man das nicht schafft, dann wird es freilich unappetitlich, und auch grausam, wenn bei lebendigem Leib wieder und wieder nachgehackt werden muss, bis der Kopf endlich ab ist. Den glatten, perfekten Streich, der da gefordert ist, den bekommt der starke Sohn wahrscheinlich besser hin als der Vater.– Hieronymus hat jedenfalls eine entsprechende Eingabe geschrieben, und auf der Ratssitzung gestern wurde das dann auch so beschlossen, dass der Hoffmann-Sohn aus Groß-Gerau die Hinrichtung machen darf. Muss allerdings am Montag kommen und sich vorstellen auf dem Amt. Wenn er dann stark und fähig wirkt, dann steht dem nichts im Wege. Unterdessen hämmern sie am Bauhof schon fürs Schafott.»
Natürlich wusste es schon seit gestern Nachmittag jeder in der Stadt: Das Gnadengesuch war abgelehnt worden in außerordentlicher Sitzung. Georg hatte hier nur die Details nachgeliefert, über die er aus dem Mund seines Ratsherren-Vaters allerbestens informiert war. Er hatte, um ehrlich zu sein, seinen Vater auch ziemlich ausgequetscht nach jeder Einzelheit: auf dass er Cornelia was zu erzählen habe.
Die hatte auf die Ratsentscheidung so reagiert, wie von einem Weibsbild zu erwarten war: bestürzt. Schockiert schon allein von der Gewalt, die bevorstand.
Überraschend war allerdings für Georg eine etwas merkwürdige Meinungskoalition in der Familie Goethe. Indem nämlich ausgerechnet der gestrenge Herr Rat, über den Cornelia nie ein gutes Wort verlor, hier als Einziger ganz einig mit seiner Tochter war und sie sofort unterstützte. Die Begnadigung hätte man der Brandin durchaus geben können, fand er. Dann Zuchthaus mit Zwangsarbeit, wenn nicht gar auf den Schanzen in Ketten, und wenn sie das lange überlebte, dann wär’s ein Gottesurteil, sie bekäme nach ein paar Jahren einen Landesverweis, dann wäre man sie auch los. Das sei doch sicher nicht weniger abschreckend als die Todesstrafe – eher im Gegenteil, das schreckte erst recht ab, wenn man die Verbrecherin noch jahrelang entehrt im Zuchthaus wüsste!
So die Meinung des kaiserlichen Rats Dr. Caspar Goethe.
Wolfgang und seine Mutter hingegen, die sahen es anders. Ein Leben für ein Leben, das sei nun einmal so, befand die Rätin
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