Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
sehr unsentimental. Das hätt sich das Mädchen eben früher überlegen müssen, sie hätte eben nicht huren dürfen und ganz gewiss ihr Kindchen nicht umbringen. Sie, die Rätin, hätte viel drum gegeben, wenn sie ihre verstorbenen Kinder hätte behalten dürfen, und andere Weiber, die verdarben ihren Nachwuchs mit eigener Hand. Das musste eben bestraft werden.
Wolfgang vermied so plumpe Worte. Aber er sprach von der zutiefst natürlichen, ästhetischen Symmetrie dessen, was Claudys Urteilstext (klar kannte man den!) als göttliches Gesetz bezeichnete. Eine Tat wird ausgelöscht durch den identischen Vorgang am Täter. Er sprach von einer inneren Logik der Entwicklung, die schwer zu durchbrechen sei. Und er fand, dass es bei aller Tragik vielleicht gerade keine Wohltat an der Mörderin sein würde, an diesem wirklich bemitleidenswerten Mädchen, wenn man ihr diese Möglichkeit zur Sühnung, zur völligen Bereinigung ihrer Schuld nehmen würde.
«Dein frommer Gedanke in Gottes Ohr», bemerkte Georg trocken. «Nur ist die arme Sünderin offenbar selbst der Ansicht, dass ihr durch eine Begnadigung besser gedient wäre.»
«Hättest du sie also begnadigt?», bedrängte ihn Cornelie und rutschte auf ihren Stuhl nach vorn. Ihr Bruder schwieg pikiert, da er sich über Schlossers spöttelnden, aggressiven Widerspruch ärgerte, und hatte nun die Genugtuung zu sehen, wie Georg sich wand auf Cornelies Frage.
«Je nun, Cornelia. Was mein Herz mir in diesem Fall sagt, brauch ich kaum zu erläutern, du hast mich oft genug von meinem Mitleid reden hören mit der unglücklichen Person. Und wäre ich ein Weib, müsste ich weiter nicht denken. Nur hat man als Mann in Verantwortung nicht immer dem Herzen zu folgen. Man hat ja nicht dem Einzelnen zu dienen, sondern dem Staat. Und da kann ich dem Rat und meinem Vater kaum widersprechen: Mitleid und Gnade können Einzelne retten. Doch sie zerschneiden das Band des Gesetzes. Solange die Gesetze so sind …»
Cornelie saß reglos auf ihrer Stuhlkante, wie festgefroren.
«Wo soll’s denn stattfinden?», fragte erwartungsvoll ihre Mutter, als ginge es um eine Volksbelustigung.
«Ach, das wissen Sie noch nicht? Gleich bei Ihnen ums Eck. Zwischen Hauptwache und Katharinenkirche, am Eingang zur Zeil.»
«Was?» Wolfgang war entsetzt. «Öffentlich, mitten in der Stadt? Um Himmels willen! Was sind denn das für vorsintflutliche Sitten, dem Volk solche schauerlichen Szenen zuzumuten? Die zarten Seelen verletzt man, die rohen verroht man weiter! Warum denn nicht in einem der Gefängnisse oder wenigstens draußen auf dem Galgenfeld?»
«Es scheint wohl, dass da ein spezieller Ritus besteht bei Hinrichtung wegen Kindsmord. Die letzte ist ja noch gar nicht so lange her, falls du dich entsinnst, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht. War die nicht auch an der Hauptwache?»
Damals allerdings, da waren Wolfgang und Cornelie Kinder gewesen, und die Eltern hatten sie während des unerfreulichen Großereignisses im Haus und mit Unterricht beschäftigt gehalten. Diesmal würde das anders sein.
«Ich geh nicht hin», erklärte Cornelie und griff nervös nach der Kaffeetasse.
«Ach, komm doch mit», bat Wolfgang.
MONTAG, 13. JANUAR 1772
DIE EHEMALIGE Senckenbergische Magd Schmalbachin nähte fleißig an dem schönen weißen Totenkleid für ihre Gefängnisgenossin. Und obwohl es ihr nach wie vor gegen den Strich ging, dass die Kindermörderin so übermäßig viel Aufmerksamkeit und so gutes Essen bekam, war sie heute einmal nicht neidisch auf sie. Denn ihren großen Auftritt morgen, den würde das Mädchen ja mit dem Leben bezahlen.
Das ist deren Sorge allerdings nicht mehr.
Die Susann ist nämlich inzwischen so weit, dass sie den Moment herbeisehnt, an dem es endlich vorbei ist mit dem Leben. Wenn sie es nur schon hinter sich hätte. Vorm Tod hat sie nämlich gar keine Angst mehr, sie ist fast ganz getrost jetzt, hat sich ganz abgefunden, nur noch das Sterben schreckt sie. Das Warten auf den Hieb. Der Moment, an dem ihr die Arme gebunden werden zur Hinrichtung. Sie weiß nicht warum, das Binden scheint ihr das fast Schlimmste. Die Enge plötzlich. Die quälende Enge.
Sie weiß genau, wie es morgen ablaufen wird. Man hat sie gut vorbereitet. Aufs Protokoll, denn sie ist die wichtigste Protagonistin eines großen Schauspiels. Und auf den Tod.
Man lässt sie nicht mehr allein. Der Herr Pfarrer Willemer hat − auf Befehl des Predigerministeriums − eine zweite Kraft dazugesellt bekommen, den
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