Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
führt sie die Susann fertig geputzt vor den großen Spiegel. «Wie schön du aussiehst», sagt sie. Die Susann selbst findet, sie sieht aus wie ein Gespenst. So weiß, so blass, diese flackernden Schatten im Kerzenlicht. Und dann kommen ihr die Tränen, weil es noch immer, trotz allem, ihr eigenes, vertrautes, unschuldiges junges Gesicht ist im Spiegel unter der weißen Haube. Das gleiche Gesicht wie vor einem Jahr oder zweien. Und es überkommt sie wieder, wie unglaublich alles ist, als könnte es gar nicht wahr sein: dass ihr Leben tatsächlich derart vom Weg ab und ins Verderben gelaufen ist. Dass es kein Zurück mehr gibt.
Und dass es so wenig bedurft hätte, um all das zu verhindern.
«Das hier sollst du in die Hand nehmen.» Die Frau Weines reicht ihr ein gefaltetes weißes Sacktuch, in dem eine große Zitrone liegt. Die Totenfrucht. Die tragen bei Beerdigungen die Sargbegleiter. Aber sie, sie lebt ja noch auf ihrem letzten Gang, sie kann ihre Zitrone selber tragen. Keine Hochzeit, eine Beerdigung.
Es sieht auf jeden Fall sehr feierlich aus, wenn sie jetzt, sie hat sich hingesetzt, an sich hinunterblickt, die weißen Kleider, das weiße Tuch mit der leuchtend gelben Zitrone in den weiß behandschuhten Händen. Sie starrt die ganze Zeit hin. Soweit sie etwas sehen kann. Die Sicht verschwimmt immer wieder, denn leider laufen ihr seit eben wieder ständig die Tränen übers Gesicht. Wenn es einmal anfängt mit dem Heulen! Sie versucht, sich abzulenken, bewegt die Lippen, spricht bei den Gebeten von den Herren Kandidaten mit, die wieder eingetreten sind, links und rechts von ihr sitzen und keine Stille aufkommen lassen.
Die Pfarrer Willemer und Zeitmann treffen irgendwann auch ein, nacheinander, so um kurz nach fünf Uhr früh. (Die Uhr! In der Stube steht eine, und sie muss ständig hinsehen.) Inzwischen hat die Susann es geschafft, mit dem Weinen aufzuhören. Gott sei Dank. Dann muss sie sich wenigstens nicht dauernd an dem schönen, reinen weißen Tuch die Nase wischen. Herr Jesus, was für alberne Sachen einem wichtig sein können so kurz vor dem Tod.
Der Herr Zeitmann macht ihr Komplimente, wie schön sie aussieht in ihrem weißen Habit, und sie hat doch wahrhaftig einen Anflug von Galgenhumor: Eine schöne Leiche, sagt sie, lacht halb auf und erschrickt dann über sich selbst. Denn hätte sie überhaupt scherzen dürfen in ihrer Lage, ist das nicht frivol und verstößt gegen die bußfertige Haltung einer Sünderin, die gleich vor ihren himmlischen Richter tritt? Doch glücklicherweise lachen der Zeitmann und der Willemer auch ein bisschen, es wird ihr also nicht sehr geschadet haben im Himmel, der Lapsus.
Später, es ist gegen sechs, kommt eine Person, die so absonderlich kostümiert ist, dass die Susann für einen Augenblick sich selbst und ihre Angst vergisst. Was der Herr anhat, sieht aus wie die Mode von anno dazumal: Über einem schwarzen Kleid mit breitem Gürtel und schwarzen, hohen, stark gespornten Stiefeln trägt er einen verwegenen roten Umhang, auf dem ein silberner Wappenadler prangt. Und natürlich hat er auf dem Kopf eine ellenlange, dick gelockte Prachtperücke. Die Frau Weines wird von dem neuen Herrn herauskomplimentiert, dafür ist jetzt plötzlich der Herr Weines mit Söhnen im Raum, und die Susann begreift allmählich, dass die kostümierte Person der Vorgesetzte von dem Richter Weines ist. Der Herr Obristrichter nämlich, der oberste städtische Beamte zur Aufsicht über den Strafvollzug und die Gefängnisse.
Als Nächster trifft der Claudy ein, hochfeierlich perückiert auch er, höchst nervös und angespannt im Gesicht. Da wird auch die Susann augenblicklich unruhig, spürt ihr Herz losrasen und ihre Eingeweide sich regen.
Jetzt geht es gleich los.
Tatsächlich!
Der Claudy verschwindet, kaum drinnen, wieder in den Vorraum, kommt dann zurück mit drei großen Männern, die draußen gleich bei der Tür gestanden haben müssen und die sich nun schnell in die Ecke hinter dem Ofen begeben, wo die Susann sie nicht sehen kann. Und dann kommt der Claudy direkt auf sie zu, bleibt stehen, räuspert sich, befiehlt ihr, ohne ihr in die Augen zu sehen, sich ebenfalls aufzurichten, rollt ein Papier auf, als sie steht, und beginnt nach neuerlichem Räuspern, langsam etwas vorzulesen. Es ist das Todesurteil. Das bekannte.
Als er an die Stelle kommt «andern zum abscheulichen Exempel mit dem Schwert vom Leben zum Tod zu bringen», da spürt die Susann, wie sie anfängt zu zittern. Obwohl
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