Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
zuredeten. Als wär sie schon unter die Raben gefallen, dachte die Frau Weines. Also wirklich. Wenn doch nur endlich diese ganzen Schwarzröcke das Mädchen mal in Ruhe ließen.
Die Susann allerdings hörte im Augenblick sowieso nicht hin.
Sie hört nur die Hammerschläge draußen Richtung Hauptwache. Die können nur eines bedeuten: Das Schafott wird errichtet. Ihr Schafott.
MONTAG, 13. JANUAR, ABENDS
GEORG KAM noch schnell bei Goethes vorbei nach einem langen Tag. Die Eltern waren glücklicherweise nicht im roten Salon, als er eintrat. Nur die Geschwister. Was ihm immer sehr recht war.
«Der Römer ist der reine Taubenschlag», berichtete er. «Für die Angeklagte mag es ja besser sein, wenn es schnell geht, aber wenn dann hinterher alles schiefläuft … so etwas ist in der Eile doch kaum zu organisieren. Was alles bedacht werden muss. Zum Beispiel fällt dem Claudy heut mehr zufällig ein, dass die bürgermeisterliche Ordonnanz ein Cousin von der Delinquentin ist, ausgerechnet. Da kann der natürlich nicht die Honneurs machen bei der Veranstaltung. Der Claudy musste durchs ganze Haus laufen, der Ordonnanz Bescheid sagen und dann dem Ersatz. Dann haben sie im letzten Moment beschlossen, dem Erasmus Senckenberg eine Sonderbewachung unters Fenster zu stellen. Falls es zum Volksaufruhr kommt und die Meute ihn befreien will, den alten Schwerenöter. Und der Claudy, auf dessen Schreibtisch alles landet, der weiß nicht, wo dafür die Soldaten hernehmen. So viele Sonderkommandos hat er schon requirieren müssen.»
«Volksaufruhr? Besteht da denn Gefahr?»
«Je nun, Cornelia, es gibt ja gewisse Sympathien für die Brandin. Und große Volksansammlungen sind immer gefährlich. Zur Sicherheit werden die Stadttore geschlossen bleiben morgen, dass nicht noch Leute von außerhalb hinzuströmen. − Man sollte übrigens frühzeitig hingehen, wenn man einen guten Platz bekommen will. Kommt ihr denn?»
«Sicher», sagte Wolfgang, und zugleich Cornelie: «Nein.»
«Ach natürlich, wie rücksichtslos von uns Männern», murmelte Georg, zum Schein in Wolfgangs Richtung, und fügte lauter an: «Cornelia, wenn du nicht gehst, werden wir natürlich auch nicht gehen. Es muss dir ja hier jemand Gesellschaft leisten und dich ablenken von dem Grauen draußen. Nein, keine Widerrede, das ist doch selbstverständlich.»
Wolfgang traute seinen Ohren nicht. Abgesehen davon, dass es ihn erheblich enervierte, wie Schlosser hier für ihn Entscheidungen traf (denn er konnte ja anstandshalber jetzt kaum noch protestieren), abgesehen davon musste er nun wirklich an seiner Menschenkenntnis zweifeln. Es wollte ihm nicht in den Kopf, wie es sein konnte, dass dieser trockene, harte Typ Georg Schlosser nun dauernd Weibersensibilitäten hinterherlief.
Cornelie war übrigens, außer vom gut gemeinten Prinzip her, gar nicht froh über das Dekret von Georg. Denn es setzte sie in Wahrheit unter Druck. Wenn sie nämlich jetzt weiter darauf besteht, nicht mitzuwollen – und Georg wird natürlich keinesfalls abrücken von seinem ritterlichen Beschluss −, dann ist aus Wolfgangs Sicht sie die Spielverderberin. Dann ist sie es, die ihn daran gehindert hat, dem Schauspiel zuzusehen, das er doch aus dichterischen Gründen unbedingt erleben will.
Wenn sie ehrlich sein soll: Sie will schon deshalb nicht mit, weil es ihr zu anstrengend ist, sich an einem eisigen Januarmorgen stundenlang eingepfercht in einer Menschenmasse die Beine in den Bauch zu stehen.
Aber jetzt wird sie wohl müssen.
DIENSTAG, 14. JANUAR, VIER UHR FRÜH
DIE FRAU WEINES legt die neuen, noch ganz steifen weißen Kleider vor ihr aus im Schein teurer Kerzen: Rock, Jacke, Halstuch, Häubchen, Unterkleidung, sogar ein Paar feine weiße Handschuhe. Handschuhe hat die Susann noch nie gehabt.
Es ist wie eine Hochzeit bei den ganz reichen Leuten, denkt sie.
Aber damit ihr Kleid nicht ganz aussieht wie das einer Braut, einer Jungfrau, ist an Rock und Jacke das leuchtende Weiß mit schwarzen Bändern und Schleifen besetzt. Das fällt ihr erst beim Anziehen auf, als sie allein mit der Frau Weines und deren Tochter ist. Die beiden Herren Predigerkandidaten, die mit ihr gewacht und gebetet und gesungen haben heute Nacht, warten vor der Stubentür. Samt den wachhabenden Soldaten. Auch die sind Tag und Nacht hier oben. Als wollte sie noch fliehen.
Oder würde sie, wenn sie irgend könnte?
Sie weiß es nicht. Was weiß man schon über sich?
Nachdem die Frau Weines ihr die Haare gemacht hat,
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