Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Feuer angefacht hatte. Der Günstling ihrer Bemühungen sitzt wieder essend auf dem Bett und hat unterdessen schon den Suppenteller gegen den Fleischteller eingetauscht. Soweit mit vollem Mund möglich, lächelt er zufrieden als Antwort auf ihr «So, da bin ich» und vermittelt den Eindruck wohliger Zufriedenheit. Wortlos stellt er ihr den Weinbecher vor die Nase, als sie sich setzt, und gießt ihn randvoll. Sie findet bald mehr Grund als nur ihren Durst, den dünnen Wein ziemlich rasch in die Kehle zu gießen (es ist zum Glück genug da, und ihr wird dauernd nachgeschenkt).
Die «Geschichte», die ihr der Holländer in stark zensierter Form erzählt, beginnt nämlich damit, dass er, gleich am Abzweig in die Bockenheimer Chaussee, von einem Zweispänner überholt wurde, diesen mit einem Wink anhielt, um sich seines Wegs zu versichern, und man ihn beschied, die Herrschaften seien selbst unterwegs in die reformierte Kirche: Er möge nur einsteigen, man wolle ihn mitnehmen. Diese Herrschaften, ein älteres Paar und ein junger Mann, stellten sich alsbald als eine Familie de Bary vor (das ist der Moment, an dem die Susann den Becher bis zur Neige leert). Worauf der Holländer sich bei besagten de Barys erkundigte, ob die Herrschaften vielleicht ein sehr liebes, hübsches Mädchen namens Sßüsann kennten, das in dem von ihm bewohnten Gasthaus Zum Einhorn arbeite und ebenfalls reformierter Religion sei. (Hier hüstelt die Susann und nimmt aus dem nachgefüllten Becher einen langen Zug. Ihr ist furchtbar heiß.) Die Frau de Bary hatte nach langem Überlegen festgestellt, sie ahne, von welcher Person er rede, ein schlankes, gerades, großgewachsenes Mädel, nicht wahr? – und dass er sich doch später in der Kirche an ihre Schwägerin, die Frau von Stockum, halten solle, die ihres Wissens mit der Familie noch besser bekannt sei.
Vor der Kirche eingetroffen, wo sich unter kahlen Bäumen schon das halbe reformierte Frankfurt tummelte, hatte dann die Frau de Bary suchend umhergesehen, die Frau von Stockum erspäht, sich durchs Gedränge zu ihr geschoben und ihr den Mitfahrgast vorgestellt, worauf die Frau von Stockum ihn sofort und energisch unter ihre starken Fittiche genommen hatte. (Die Susann ist an dieser Stelle des Berichts immer noch sehr heftig bewegt. Sie ist jetzt auch ein bisschen eifersüchtig auf diese mittelalten Damen, von denen sie sich lebhaft vorstellt, wie sie mütterlich-gönnerhaft herumglucken um den gut aussehenden jungen Fremden. Oder vielleicht ist sie neidisch auf ihn , wie er sofort überall beliebt ist, mit seiner unbefangenen, selbstbewussten Freundlichkeit, und einen so guten Eindruck macht, dass sogar die de Barys ihn bei sich einsteigen lassen.)
Die Susann Brandin, die kannte die Frau von Stockum natürlich! Jaja, und wusste so einiges über sie, wie sie dem außergewöhnlich gut gewachsenen und charmanten jungen Holländer ohne Verzug vielsagend andeutete. War doch die Susann die jüngste und übrigens leider nicht hundertprozentig wohlgeratene Schwester ihrer, der Frau von Stockum, langjährigen Wasch- und Nähfrau Ursula Königin − für deren Söhnchen übrigens ihr seliger Gatte nicht lang vor seinem Tod noch die Patenschaft übernommen hatte.− Jaja. Um also auf die Susann zurückzukommen − die Frau von Stockum prüfte mit der Linken den Sitz der Haube auf der Turmfrisur und blickte sich verstohlen um, ob etwa gar die Königin ungünstig in der Nähe sich befinde − aber nein, sie schien glücklicherweise heut absent. Die Susann nämlich, vertraute sie also dem jungen Mann an, die sei ungelogen das schwarze Schaf und Sorgenkind der Familie. Jaja, sie sei bestens informiert, die Schwester habe sich nämlich nicht selten bei ihr wegen des Luders ausweinen müssen, ein jüngstes Kind, das verwöhnte Nesthäkchen sozusagen, schön von Angesicht zwar nicht im eigentlichen Sinne und auch etwas zu lang von Gestalt, aber dennoch hübscher, als ihr guttue. Und da wisse man ja, wohin das führe – zu Hoffart und Pflichtvergessenheit, was sich die Susann als Tochter eines bloßen Gefreiten nun weiß Gott nicht leisten könne. Aber wie es in der Schrift heißt: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Und die Susann habe nun tatsächlich, jaja, die Frau von Stockum wisse das bestimmt, vier oder fünf Male schon wegen Aufsässigkeit, Frechheit und Faulheit den Dienst quittiert bekommen! Inzwischen seien ja die Eltern beide tot, und so hätten nun die geplagten, hart arbeitenden Geschwister ihre
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