Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Wahrheit gar nicht schwanger!). Wenn’s aber wirklich am Ende ans Gebären gehen sollte, flüstert ihr die Stimme weiter, dann kann sie doch in dem großen Haus sich leicht irgendwo in eine Stube oder in die heimlichen Gemächer verkriechen, es wird ja wahrscheinlich nicht viel anders oder ärger sein als das Gewöhnliche bei der Christiane. Wenn es auffällt, dass es ihr schlechtgeht, kann sie eben behaupten, sie hätte ihr Geblüt sehr heftig wiederbekommen. Und danach, da würde bald alles wieder gut. Lieber Herr Jesus, wenn nur alles endlich wieder gut wäre.
Sie wünscht sich ins letzte Jahr zurück, bevor der Jan da war. Sie wünscht sich sogar bis ganz früher ins Haus de Bary zurück. Am liebsten würde sie von Anfang an alle ihre Fehler ungeschehen machen. Sie ist wirklich an allem selber schuld.
Du lieber Gott, sie macht sich ja mit ihrer Grübelei selbst das Leben schwer. Jetzt nicht mutlos werden, nicht aufgeben. Es ist doch noch nicht alles verloren. Selbst nicht, wenn sie schwanger ist. Eigentlich ist fast gar nichts verloren, wenn sie nur stark bleibt.
Und stark bleiben muss sie auch. Denn eben ruft ein gewisser segelohriger, großgewachsener Konstabler sie mit einem Unheil kündenden Gestus an seinen Tisch. Gemeinsam mit einem Trupp anderer Artilleristen ist er schon seit zwei Stunden fest am Trinken. Man höre, lallt er, als sie bei ihm steht, man höre, sie sei eine Dreitagesfrau und brauche dringend was Neues zum Befeuchten, und ob er ihr dafür seines Vaters großen Hund vorbeischicken solle, der könne das auch.
Wenn er nicht so betrunken wär, erwidert die Susann, müsste sie ihn für diese Beleidigung anzeigen. Da er aber vor lauter Bierdunst im Hirn offenkundig nicht mehr denken könne, wolle sie es dabei belassen, ihm zu sagen, dass ihm mit Mist aus dem Jauchekübel das Maul gestopft gehöre. Sie werde ihm jedenfalls heut Abend kein Bier mehr servieren. Falls er aber jemanden zum Prügeln suche, und es scheine ihr, als sei das so, dann solle er dies bitte außerhalb des Einhorns erledigen, das eine anständige Wirtschaft sei und Händel nicht dulde.
Womit sie sich, das sieht sie, bei den Herren Konstablern wieder Respekt verschafft hat.
Nur immer stark bleiben.
SONNTAG, 5. MAI 1771
JE SCHÖNER das Wetter − und es war sehr schön im späten April und Anfang Mai 1771 −, desto schlechter war die Luft in Frankfurt. Insbesondere in der engen Altstadt, wo der Rauch der Küchenschlote, vor allem aber der Gestank der Mistkübel und Senkgruben zwischen den dicht an dicht stehenden, überhängenden Häusern nicht abziehen konnte. Am allerschlechtesten aber roch es im Osten der Stadt (jedenfalls seit das notorische Pestilenzloch beim Waisenhaus ausgehoben war). Und zwar stank es am unerträglichsten da, wo die alte Staufenmauer noch erhalten war und die Judengasse lag mit ihren drei-, fünf- oder vielleicht sogar sechstausend ohne Licht und Luft zusammengepferchten Menschen, deren Dreck, Salzfleisch- und Salzfischvorräten.
Genau da, nämlich an der Staufenmauer, befand sich auch das Einhorn . In dem teils überbauten, von allen Seiten hoch ummauerten Hof mieften in Holzkübeln die Hinterlassenschaften der Bewohner und Biergäste vor sich hin. Diese Dämpfe mischten sich einträchtig mit dem Gestank der Judengasse, der von der anderen Seite der Mauer herüberwaberte. Zu allem Übel verlief nur ein kleines Stück weiter Richtung Dom ein Arm der hochmittelalterlichen Antauche. Zwar dürfte in diesen schlecht fließenden, entsetzlich trüben Kanal eigentlich kein Unrat mehr gekippt werden, und übrigens auch nicht in die Regengossen in der Straßenmitte. Doch daran hielt sich längst nicht jeder.
Jedenfalls nicht, wenn gerade niemand guckte. Und mancher musste sich auch höchst offiziell nicht dran halten, denn der Rat vermietete wohlsituierten Bürgern gegen eine kleine Gebühr schon mal ein Nutzungsrecht. So zum Beispiel der Familie Goethe, die nach ein bisschen Strippenziehen für 2 Gulden 12 Kreuzer jährlich ihre Notdurft direkt in die an ihrem Haus vorbeiführende westliche Antauche verrichten durfte.
Goethes wohnten allerdings dort, wo es ein bisschen lichter und luftiger wurde: im Hirschgraben, an der ehemaligen Westgrenze der auf dieser Seite der Stadt längst abgerissenen Staufenmauer, wo früher zum ratsherrlichen Vergnügen Hirsche unter Nussbäumen gehalten wurden und jetzt die gartenreiche Neustadt begann. Ganz untadelig roch es natürlich auch hier nicht. Da war der
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