Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
herumschwimmende Kindsleichen pro Jahr zur Anzeige.
Der Bonum seufzte, nahm seinen Fisch- und Kräuterkorb und machte sich auf den unterbrochenen Weg. Beim Brückentor wurde seine frisch durchlüftete Nase gleich wieder durch den üblichen Gestank beleidigt. Seine Augen übrigens auch, da auf dem Brückentor ein durch und durch bösartiges, hässliches Judenspottbild prangt, dessen Entfernung die Frankfurter Judenheit seit Jahr und Tag vergeblich forderte. Aber das war für den Bonum heute nun wirklich die geringste Sorge.
Sollte er etwa …? Hm. Wie, wenn er sich nun in der Bekanntschaft nach dem, wie hieß er gleich, Jomtov oder Jontef erkundigen würde, danach, wo der abgeblieben ist. Irgendjemand in der Judengasse würde das sicher wissen. Und wenn er ihm dann schreiben ließe: Er solle sich, wenn er könne, mit seinem Kumpan, dem holländischen Goldschmied, in Verbindung setzen und dem wiederum ausrichten, die Dienstmagd im Einhorn wär in gewissen Schwierigkeiten, und falls ihm, dem Holländer, eine Verantwortung dafür bewusst sei, möge er sich schleunigst auf den Weg nach Frankfurt machen?
Ach was. Da lacht ihn ja jeder aus, wenn er so etwas versucht.
Lieber gar nicht erst einmischen.
EIN ABEND ENDE APRIL 1771
DIE SUSANN zapft Bier und spürt regelrecht, wie die Leute ihr auf den Bauch gucken. Es gibt auch Sprüche zu hören, so etwa: Ei, was ist denn mir dir passiert, Susann, warst doch sonst so schlank? Worauf die Susann lacht und zum Beispiel antwortet: Das Messeessen sei so gut gewesen, und Gott möchte sie nur bei der Dickung erhalten. Vorher hätte sie ja gar nichts zuzusetzen gehabt. Und dann führt sie mit dem, der so freche Sprüche macht, erst recht einen langen, lustigen Schwatz. Bloß nicht schuldbewusst wirken. Bloß weiter so tun, als sei nichts. Und vielleicht ist ja auch nichts. Sie hatte schließlich, verdammt nochmal, nach dem Verkehr mit dem Jan ihr Gewöhnliches, und wie das zugegangen sein soll, dass sie trotzdem schwanger geworden ist, das will ihr nicht in den Kopf.
Aber schwanger ist sie offenbar doch. In der vergangenen Woche jedenfalls hat sie noch zweimal die Bewegung gespürt von etwas Großem, Fremdem in ihrem Bauch, und wenn es ein Stein nicht ist, der von selbst hin- und herrollt und sie drückt und der den Bauch so hart macht, dann muss es wohl ein Kind sein.
Fast könnte man meinen, die Christiane hätte ihr eins angehext. Aus Rache, weil sie gehen musste. Da aber der Susann nicht bekannt ist, dass die Christiane (oder sonst irgendjemand) hexen kann, und ihr leider sehr wohl bekannt ist, dass sie selbst gesündigt und einen schweren Fehler begangen hat, wird dem wohl nicht so sein. Da wird das Kind schon vorher sich bei ihr im Bauch befunden haben, seit dem Dezember nämlich. Und in der Tat erinnert sie sich, dass ihr die Dorette während ihrer Schwangerschaft erzählt hat: So ab dem fünften Monat hätte sie gespürt, wie ihr Kind sich bewegt.
Die Susann kann es trotzdem nicht ganz glauben. Könnt es nicht doch sein, dass das Fremde in ihrem Bauch nur ein Klumpen gesammeltes Blut ist (ob man daran stirbt?) oder eine eingebildete Schwangerschaft? Sie ist sicher, von so etwas schon gehört zu haben. Dass der Bauch dick wird, aus bloßer Einbildung. Und wenn nicht, wenn also doch …
Die Susann würde sich so gern jemandem offenbaren. Dass sie doch mit einer Mannsperson geschlafen hat, nur eben vor ihrem letzten Blut. Und dass dies letzte Blut genau genommen eine ausgewachsene monatliche Reinigung nicht war, denn es hat ja zu schnell wieder aufgehört. Vielleicht wäre ihr leichter, wenn sie mit jemandem über all das sprechen könnte und nicht mehr so allein sein müsste mit dieser Angst und dieser Unsicherheit. Dann müsste sie auch nicht mehr so entsetzliche Angst vor Entdeckung haben, dann hätte sie ja schon jemandem alles verraten, dann wär es schon raus sozusagen. Aber wer soll die Person sein? Wem kann sie sich denn anvertrauen mit so etwas?
Allein bei dem Gedanken, sie solle ihren Fehltritt und das Wälzen im Bauch der Frau Bauerin gestehen oder den Schwestern, fühlt sich ihr Mund an wie zugepresst von einer eisernen Hand. Gerade die dürfen es ja nicht wissen. Und wen hat sie denn sonst?
Nein, sagt ihr eine Stimme, am besten fährt sie allemal, wenn sie weitermacht wie bisher und schweigt wie das Grab. Fünf Monate hat sie überstanden, die Leute reden ohnehin schon, da wird sie den Rest auch noch überstehen mit Leugnen (womöglich ist sie ja in
Weitere Kostenlose Bücher