Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
westliche Arm der Antauche zum einen, die unmittelbare Nachbarschaft der Altstadt zum anderen, und zum dritten passierte es bei Westwind, dass der Gestank des städtischen Mistabladeplatzes von jenseits des Galgentores herüberwehte.
Am ersten Sonntag im Mai herrschte zum Glück kein West-, sondern ein angenehmer, frischer Südwind. An den Spazierwegen auf und vor den alten Festungsschanzen grünte der Wein, knospten die Linden und blühten schon die Apfelbäume. Kein Wunder, dass es die Frankfurter heute mehr noch als an jedem anderen Sonntag hinaustrieb aus ihren engen Gassen und hinauf auf die Wälle, wo der sanfte Wind jedes Wölkchen von Gestank, sollte es sich denn bis hierher verirrt haben, sofort wegblies. Was war das für eine Freiheit hier oben! Und der weite Blick!
Ganz früh am Morgen, es war noch rosa im Osten und kühl, war sogar die vielbeschäftigte Dienstmagd Susann aus dem Einhorn hier gewesen, die sich der Gesundheit halber ein knappes Stündchen Luftschnappen von ihrer Wirtin ausbedungen und auch erhalten hatte. Aber sie war nicht so allein in der guten Luft gewesen, wie sie sich eigentlich gewünscht hatte. (Sie wollte nachdenken! Das musste sie wirklich, einmal in Ruhe nachdenken!) Ziemlich bald nämlich stieß sie hier draußen ausgerechnet auf des Schuhmacher Wetzels älteste Tochter Eva.
Die war ebenfalls nur für ein halbes oder dreiviertel Stündchen von zu Hause geflohen. Eigentlich sollte sie ja Wasser holen; die Eltern wussten es gar nicht, dass sie über die Allerheiligengass mit ihren schönen Gärten nach der Schanze ausgebüchst war.
Der Eva war das Zusammentreffen zunächst sehr peinlich, weil ja die Eltern ihr gesagt hatten, die Susann wär kein Umgang mehr für sie, die wär eine Erzhure und der Schandfleck ihrer Familie und trage ein unehrliches Kind aus. Aber die Eva konnte dann bald doch nicht viel anders als sich über den Zuruf der Susann auf der Schanze freuen. Denn als man sich lachend gegenüberstand, da stellte sich schnell heraus, dass die angeblich so böse Person, ob schwanger oder nicht, noch ganz die gute alte Susann von früher war. Es war auch zum Glück bei der morgendlichen Stunde kaum jemand sonst hier oben, der den Eltern hätte petzen können, dass sie, die Eva, jetzt mit der Susann plauschte. Oder dass sie sich der Verachteten nach einer Weile wie zu Kinderzeiten an den Hals geworfen hatte und sich von ihr hatte drücken und trösten lassen über das Elend im Wetzelischen Haus, mit dem Vater und der Stiefmutter auf den Tod krank und zwei kleinen Geschwistern und der Zukunft so rabenschwarz.
Was tat das gut, einmal feste jammern zu können. Und endlich einmal wieder Evchen genannt zu werden, wie damals, als sie klein war. Zu Hause musste sie ja immer die Große, Erwachsene sein, und über ihre quälenden Sorgen, dass der Vater sterben und die Familie am Bettelstab zurücklassen könnte, über die durfte gar nicht geredet werden. Es wurde vielmehr so getan, als wäre der Vater bei blühender Gesundheit, so als würde jeder fidele Mensch sich Tag und Nacht die Seele aus dem Leib husten und immer magerer und magerer werden. Der Dr. Senckenberg, der zu Beginn einmal konsultiert worden war, der hatte ja sogar behauptet, das Bluthusten wäre ganz natürlich und gesund, da würde der Körper sich selbst helfen und das ganze überschüssige Blut ausscheiden, wozu man sonst einen Aderlass gebrauchen müsste.
Die Susann hat die Eva nicht abgespeist mit den frommen Lügen, die sie von anderen immer hört. Von wegen der Vater wär so schwer gar nicht krank und sie müsse sich keine Sorgen machen. Vielmehr hat sie der Eva Mut gemacht, dass es, käme es zum Schlimmsten, durchaus nicht hoffnungslos für die Wetzel-Kinder aussähe. Das Haus sei ja da als Wert. «Aber da sind lauter Schulden drauf», hatte ihr die Eva gleich gestanden, «der Vater verdient ja kaum noch was, zu so einem kranken Mann kommen die Kunden nicht gern. Und wer doch kommt, der kann nicht zahlen.» (Wie das ihr Gegenüber ins Gewissen traf, konnte die Eva nicht ahnen.)
«Dein Vater ist doch Bürger», meinte darauf die Susann, und der Rat lasse Bürgerkinder und Bürgerwitwen nicht verkommen. Für die sei die Almosenkasse zuständig, und dann würde doch irgendwer die Werkstatt übernehmen wollen, und mit dem könne man sicher was aushandeln, dass er soundso viel Jahre die Kinder dort noch wohnen lässt. Und das Evchen könne doch schon in Dienst gehen. Wann immer es nötig werden sollte,
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