Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
hatte ja alles nur durch eifrigste, zielstrebigste Applikation und Wiederholen erreicht. Beim Sohn war davon nicht die Rede, dem fiel durch seine Begabung alles so leicht, dass er den nötigen Ernst nie entwickelte, den es braucht, um Dinge nicht nur anzufangen, sondern auch zu Ende zu bringen. Und so kam es, wie es kommen musste: Erst hatte er in Leipzig das Studium abgebrochen, war fast zwei Jahre wegen mäßiger Krankheit zu Hause geblieben und hatte sich Kunst und Spinnereien hingegeben. Jetzt, beim zweiten Anlauf in Straßburg, wo er auch schon lange genug herumtrödelte, da würde es, wie man jüngst vernehmen musste, mit der Doktorarbeit höchstwahrscheinlich nun doch nicht klappen und auf ein Lizenziat mit einer Prüfung über Thesen hinauslaufen. Was natürlich, redete sich der Herr Rat ein, für die spätere juristische Praxis im Prinzip dasselbe war − aber leider eben nicht ganz. Zum Beispiel fehlte einem die gedruckte Doktorarbeit, mit der sich so schön Eindruck schinden ließ. Trotzdem würde es mit etwas Glück beim Wolf hoffentlich hinreichen für eine schöne Juristenkarriere in Frankfurt (Syndicus wäre ein schönes Ziel!), ein Ratsherrenamt von der ersten oder zweiten Bank in absehbarer Zeit und irgendwann auch für ein Jährchen als einer der beiden Bürgermeister. (Siegner war schließlich auch nur Lizenziat, obwohl er sich Doktor nennen ließ.) Oder sogar für das Amt des kaiserlichen Schultheißen … aber das war natürlich ein ferner Traum.
Der Herr Rat Goethe selbst war von Beruf Rentier. Zu Deutsch: Er lebte von seinem Erbe. Seine Titel Wirklicher kaiserlicher Rat und Doktor beider Rechte dienten ausschließlich der Dekoration − und so hatte er viel Muße, großen Ehrgeiz für die berufliche Zukunft seines einzigen Sohnes zu entwickeln.
Eben gerade wurde er leider von Näherliegendem aus seinen rosafarbenen Zukunftsphantasien über Wolfgang gerissen, indem der von ihm nicht besonders geliebte Freund seines Hauses, der Herr Dr. Metz, Grußworte murmelnd, mit verschmitztem Blick und die Arme albernerweise ausgebreitet, auf die Familie bzw. insbesondere natürlich auf die Frau Rätin zugelaufen kam.
Der Dr. Metz – Arzt, Pietist, Schwabe – war in den letzten Jahren Teil des frommen Gesprächszirkels der Rätin, ein Kreis, an dem auch Wolfgang während seiner Krankheitsphase außerordentlichen Anteil genommen hatte. Der Herr Rat selbst allerdings stand diesem Kreis und seinen Mitgliedern eher distanziert gegenüber. Bei all seiner strengen Frömmigkeit: er war in Religionsdingen ein nüchternes, geradliniges Gemüt, zu pietistischer Schwärmerei neigte er nicht. (Das musste der Wolfgang von der Mutter haben.) Die Geschichte der Päpste zum Beispiel, die interessierte ihn, mit allen Details, das war doch etwas Handfestes, worin sich jeder auskennen sollte. Aber dies ewige seelenvolle Geschwafel … Dem Herrn Rat war es daher eigentlich auch nicht ganz recht, dass in den letzten Jahren statt des bewährten, drögen Dr. Burggrave der viel jüngere Dr. Metz die Familie behandelte, mit seinen mysteriösen, alchemistisch-kabbalistischen Andeutungen und allwissenden Blicken. Aber bitte, er ließ seiner Frau ihren Willen, in dieser Hinsicht wie in den meisten anderen.
Der Herr Rat stand also höflich, aber mit verdrießlich gepresstem Gesicht dabei, während der Dr. Metz mit den Weibern einigen wirren Unsinn austauschte. Eben suchte er sich auf die unangenehmste Weise bei Cornelia anzubiedern, die ihr Vater wohlweislich Tag und Nacht beschäftigt und an seiner liebenden Seite hielt, um sie an frömmelnden und anderen nutzlosen oder schädlichen Zeitvertreiben zu hindern. Wie der Metz sich jetzt pietistisch sülzend an Cornelie heranmachte, ließ dem Herrn Rat begreiflicherweise den Kamm schwellen. Also! Jetzt reichte es aber! Nicht mit seinem Cornelchen! Gerade wollte er dem Metz übern Mund fahren und seinen Anhang zum Weitergehen drängen − da trat unvermittelt eine korpulente Weibsperson heran und rief dazwischen: «Der Herr Doktor Metz! Wie kurios, gelle, dass wir uns grad heute treffen!» Das Weib war der Frau des Herrn Rat vom Typ her gar nicht so unähnlich, nur gröber und deutlich älter, es hing in den Mundwinkeln und knollte um die Nase und fältelte um die Augen, und natürlich war diese Person entschieden volkstümlicher. (Wobei die Frau Rätin Goethe, fand ihr Gatte, sich für die Tochter des hochedelgeborenen kaiserlichen Schultheißen Textor oft schon
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