Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
den Ehestand. Aber es war offenbar zu viel verlangt, dass sie es ihm dankte. Kinder pflegen ja elterliche Wohltaten im besten Falle selbstverständlich und elterliche Vernunft und vernünftige Vorschriften grundsätzlich zum Stöhnen zu finden − wiewohl sie wahrscheinlich heimlich froh und dankbar sind, dass irgendjemand sie davon abhält, ihre eigenen wilden Träume und Hirngespinste leichtfertig in die Tat umzusetzen.
Betreffs seiner Tochter lag er hier insofern richtig, als Cornelia, hätte sie wesentlich mehr Freizeit gehabt, nicht gewusst hätte, was damit anfangen. Im Sommer, außerhalb der Saison, langweilte sie sich ohnehin zu Tode. Aber auch im Winter reichte es ihr vollkommen aus, freitags zum Konzert zu gehen und dienstags den reformierten Debattier- und Spielclub (mit Herren!) zu besuchen. Auf Tänze und Damenkränzchen darüber hinaus konnte sie gut verzichten. Zumal es mit dem Tanzen haperte; sowohl bei ihr als auch bei ihrem Bruder. (Im Tanzen war der häusliche Unterricht leider nicht so gut gewesen.) Also war sie in gewisser Weise froh, dass sie ihr ziemlich eintöniges, freud- und freundarmes Leben vor anderen auf den Vater und ihre ein bisschen angegriffene Gesundheit schieben konnte. Denn in Wahrheit …
Bälle, Konzerte und Gesellschaften? Sie fühlte sich selten wirklich gut dabei.
Ob nämlich Herren dabei waren oder nicht bei den Gesellschaften, ob man tanzte, spielte oder über Literatur, Musik und Sprache debattierte, es ging ja letztlich immer nur um eines. Und zwar (aus weiblicher Sicht) um die Herren, und welcher nun welche verehrte oder nicht. Oder, um es noch weiter zu reduzieren: Es ging darum, welche Dame als schön galt und welche nicht. Und für die nicht Schönen war Glück unerreichbar.
Glaubte jedenfalls die Demoiselle Cornelie, die von sich auf andere schloss, indem sie leider nur schöne Männer lieben konnte (der badische Resident! Saint-Albin! Peter Brentano!) oder wenigstens auf ihre Art markant gut aussehende (wie Harry Lupton) und die sicher war, dass ein attraktiver Mann sich für ein reizloses Ding wie sie im Leben nicht interessieren könne. Ihre bisherigen hartnäckigen Verehrer, allesamt nicht besonders im Aussehen, fand sie lächerlich und im besten Fall bemitleidenswert. Immerhin war sie froh, Verehrer gehabt zu haben. So hatte man den angeberischen Freundinnen auch mal was zu erzählen.
Und Cornelies heimliche Schreibpläne? Ob sie, wenn’s drauf ankam, wirklich begabt genug war, einen erregenden Briefroman im englischen Stil aufs Papier zu bringen? (Cornelie war wie ihr Bruder ziemlich anglophil.) Wer weiß, ob ihr in Wahrheit für ein echtes Meisterwerk nicht die Ideen und das Durchhaltevermögen fehlten. Abgesehen davon, dass Wolfgang immer sauer reagierte, wenn sie ihm seinen Anspruch auf die Rolle des Dichters in der Familie streitig machte. Abgesehen auch von der Tatsache, dass es, wären ihre schriftstellerischen Ambitionen bekannt, mit dem Heiraten für sie garantiert nicht leichter würde.
Und heiraten, das musste sie. Irgendeinen Frankfurter Kaufmanns- oder Bankierssohn oder Arzt oder Anwalt, das erwarteten die Eltern von ihr, das erwartete sie selbst von sich als das Mindeste, was sie leisten musste im Leben. Sie würde wohl irgendwann bei einer sich anbietenden, halbwegs passenden und nicht völlig lächerlichen Figur (bitte, bitte kein Pfarrer!) das Spiel einmal mitspielen und am Ende einschlagen müssen. Selbst wenn ihr ekelte bei dem Gedanken, mit der Person in einem Bett … – Ach, warum konnte es denn nicht der badische Resident sein! Mit dem würde sie wollen, und wie! Aber natürlich sah der sie nie zweimal an.
Ehe ohne Liebe: ein hartes Los. Aber immer noch besser, als im Elternhaus zur alten Jungfer vergammeln. Immer noch besser, als ewig unter Papas Aufsicht zu stehen und seine unausgesprochene Enttäuschung zu ertragen sowie die garantiert lautstark vorgetragene von Mama, die ja jetzt schon manchmal Sprüche hören ließ über ihre ungraziöse, unkokette, so anders als sie selbst geratene Tochter. Alles, nur das nicht. Außerdem wollte sie Kinder. Die ließen sich ans Herz drücken, wenn schon nicht der Mann, und bei denen würde sie alles besser machen als die eigenen Eltern.
Der Wagen setzte sie vorm Allerheiligentor ab, wo schon zwischen Weinreben und Apfelbäumen die Freundinnen warteten: diverse reformierte junge Damen (die besseren Kaufleute waren fast alle reformierter Religion, wenn sie nicht Juden waren) − aber zu
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