Greywalker
eindrucksvoller gewesen, wenn ich nicht gesehen hätte, wie sie durch das Grau glitt. Und genau das verwirrte mich. Denn wenn Alice nicht wusste, was zu tun oder sehen ich in der Lage war, warum hatte sie mich dann so lange verfolgt?
Ich schüttelte den Kopf, drehte mich um und machte mich wieder auf den Weg. Auf meiner Vampirliste stand nur noch ein Name – hinzugefügt von Alice höchstpersönlich.
Fünfundzwanzig
Große Städte haben ihren ganz eigenen Charme. Dazu gehört unter anderem die Tatsache, dass das Exzentrische, Schrullige und Verrückte normaler Bestandteil des alltäglichen Lebens ist. Aber ich bezweifelte doch sehr, dass es viele Orte gab, von wo aus etwas so Obskures wie Radio Freeform gesendet wurde. Die Musik, die sie spielten, war völlig unberechenbar: Gerade tanzte man noch zu einem Bill Bronnzy Blues, um dann mit Lunchbox jäh aus den sanften Klängen gerissen zu werden. Das Gehirn und die Ohren der Zuhörer mochten sich zwar wie betäubt anfühlen, doch irgendwie passte die Musik immer zusammen. Wygan, der Mann hinter dem nächtlichen Mischpult, hatte offenbar ein Händchen für Rhythmus. Er war es, den Alice in ihrer hässlichen Handschrift auf die Liste gekritzelt hatte.
Als Nacht-DJ hatte man als Vampir wahrscheinlich das große Los gezogen. Außerdem hoffte ich, dass mich eine bekannte Größe der Szene von Seattle zumindest nicht gleich angreifen wunde. Ich fuhr also zu der Reihe von rot-weißen Sendemasten, die auf Queen Anne Hill standen, und parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor einem winzigen Gebäude. Ich war heilfroh, dass diese Phase der Ermittlungen beinahe vorbei war, denn meine Müdigkeit nahm immer mehr zu, und meine Energiereserven neigten sich ihrem Ende entgegen. Am liebsten hätte ich alles hingeworfen – ganz gleich, wie sehr Alice mir drohte. Ich fühlte mich etwas wackelig auf den Beinen, was wohl von der Begegnung mit ihr und dem vielen Kaffee herrührte, aber ich hoffte, dass dieser letzte Untote nicht so schwer zu knacken sein würde. Niemand konnte so schlimm sein wie Carlos.
Neben der stählernen Sicherheitstür befand sich eine Sprechanlage mit einem Schalter. Ich drückte darauf. Eine Stimme antwortete mir zögerlich.
»Ja?«
Ich beugte mich vor. »Hallo. Ich heiße Harper Blaine und bin Privatdetektivin«, erklärte ich der Anlage. »Alice Lidell bat mich, Wygan zu kontaktieren. Kann ich mit ihm sprechen?«
Am anderen Ende ertönte ein abschätzig klingendes Lachen. »Alice hat Sie also geschickt?« Ich erkannte Wygans weichen Akzent aus dem englischen Arbeitermilieu. »Klar doch, warum nicht? Einen Augenblick, ich lasse Sie rein. Nur wir beide hier in dieser gemütlichen Bude.« Ich hörte ein leises elektrisches Surren, das mir verriet, dass ich die Tür öffnen konnte.
Der Flur war in dem typischen Grün bestimmter Industriebauten gestrichen und das Licht so spärlich, dass der Schmutz auf dem Linoleum wie ein elegantes Muster wirkte und nicht wie ein Mangel an Reinlichkeit. Wygans Arbeitsplatz hinter einer Plastikscheibe war in rotes Licht getaucht. Warum er wohl rot gewählt hatte?
Ich kam nicht einmal bis zur Tür seiner Kabine, als mich bereits ein unangenehmes Gefühl überrollte. Lag es an dem roten Blinken, das sich plötzlich in bernsteinfarben verwandelte? Hatte ich vielleicht doch meine geistige und körperliehe Erschöpfung unterschätzt? Das Grau war nun überall am Rande meines Blickfelds. Als ich vor der Tür stand, bemerkte ich, dass sie einen Spalt weit offen stand. Das Stöhnen gequälter elektronischer Instrumente drang aus der Kabine. Ich spähte durch die Plastikscheibe neben der Tür.
Ein schlaksiger, blasser Mann winkte mir zu. »Immer hereinspaziert, das Mikro ist nicht live geschaltet.«
Ich trat ein. »Sind Sie Wygan?«
Der knochige junge Mann lehnte sich in seinem ledernen Chefsessel zurück und warf die Arme über den Kopf mit den blond gefärbten Haaren. »I am the eggman, I am the walrus! Goo goo g’joob!«, gröhlte er. »Also, Sie sagten, Alice hat Sie geschickt?«
»Ja, aber im Grunde komme ich im Auftrag von Cameron Shadley.« Ich sah mich auf der Suche nach etwas Normalem um, an dem ich mich festhalten konnte. »Warum haben Sie denn diese Lichter?«
»Die halten ein gewisses Wesen von mir fern. Er mag die wechselnden Farben nicht.« Er musterte mich amüsiert, ganz so, als würde er auf eine Pointe warten.
Ich konnte mir kaum ein Wesen vorstellen, das diese Kabine freiwillig betreten hätte. Sie
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