Greywalker
hatte das Gefühl, auf andere Weise auseinander zu fallen. Ich rannte weiter, obwohl es mich wunderte, dass ich dazu überhaupt in der Lage war. Schließlich hatte ich in den letzten Tagen öfter daran gedacht, einfach das Handtuch zu werfen. Diese Schwäche ärgerte mich – Selbstmitleid und Selbstzweifel brachten mich auch nicht weiter. Ich hatte zwar immer noch Angst, fühlte mich matt und unsicher in dieser unbekannten Situation, aber wenn ich einmal anhielt, gäbe es nur eine Art Ende für mich. Wenn ich jedoch meinen Weg weiterlief, hatte ich noch eine Chance -ganz egal, wie klein diese sein mochte.
Ich joggte also. Schweiß und Regen spülten die Dummheit und Verzweiflung von mir ab. Ich wollte so lange in diesem reinigenden Wolkenbruch bleiben, bis alles weggewaschen war. Aber ich hatte mich nun einmal für einen Weg entschieden, und daran musste ich mich halten.
Vom Büro aus rief ich die Kuratorin des Madison-Forrest-Museums an und sagte ihr, dass wir am Abend das Harmonium begutachten konnten. Sie war zwar nicht begeistert von der Idee, war aber bereit, uns um neun Uhr aufzusperren. Danach rief ich Mara an, die ebenfalls zusagte.
Als Nächstes wandte ich mich dem alltäglichen Geschäft zu, um mich abzulenken. Nach einer Weile klingelte das Telefon. Es war Will.
Er klang erschöpft. »Hi, Harper. Ich habe etwas mehr über dieses Tracher-Harmonium herausgefunden.«
»Das ging aber schnell.«
»Viele Dokumente sind in den letzten Jahren auf Computer übertragen worden, und ich weiß zum Glück, wen ich in Europa kontaktieren muss. Wie dem auch sei – ich habe keine Ahnung, warum sich dein Klient so sehr dafür interessiert. Das Instrument ist nämlich eine Fälschung.«
»Eine Fälschung? Es sieht doch ziemlich alt aus.«
»Einige Teile sind sogar zu alt. So stimmen zum Beispiel die Mechanik- und Rahmennummern nicht miteinander überein. Außerdem hat es eine Extra-Verkleidung hinter dem Spiegel und über den Pfeifen, die älter ist als das Gehäuse und da nichts zu suchen hat. Laut Tracher stammt das Gehäuse von einem Instrument, das 1923 in einem Feuer in Amsterdam beschädigt wurde. Die Versicherung hat den Fall als Totalschaden zu den Akten gelegt und das Objekt an einen Möbelhändler verkauft. Er wird es wohl auch gewesen sein, der die Mechanik, die aus einem anderen Harmonium von 1902 stammt, eingebaut hat. Aber Genaues weiß man heute nicht mehr.«
»Und was genau ist die Mechanik?«
»In diesem Fall handelt es sich nur um die Tastatur; der Rest hätte nicht gepasst. Was auch immer dir dein Klient über das Instrument erzählt haben mag, ist wahrscheinlich falsch. Das Harmonium war vor einiger Zeit verschwunden, ehe es 1957 auf einer Schweizer Nachlassauktion wieder auftauchte. Dort wurde es von dem letzten beurkundeten Eigentümer ersteigert, einem gewissen G. Sergeyev aus Bern. Ich habe mich darum bemüht, ihn ausfindig zu machen, aber leider konnte ich nur einen Zeitungsartikel auftreiben, demzufolge er 1960 gestorben ist. Er schien keine Nachkommen zu haben, an die das Instrument hätte vererbt werden können, und folglich habe ich auch keine Ahnung, was zwischen 1960 und seinem Auftauchen in Oslo mit ihm passiert ist.«
Sowohl die Kleidung als auch die Ausdrucksweise meines geisterhaften Klienten stammten bestimmt noch aus der Zeit vor den fünfziger Jahren. Es handelte sich bei meinem Sergeyev also sicher nicht um den Mann aus Bern.
»Konntest du herausfinden, woran der letzte Eigentümer gestorben ist?«
»In dem Zeitungsartikel stand, dass er von einer Straßenbahn überfahren wurde. Viel mehr gab es da nicht, außer einer unvollständigen Provenienz des Harmoniums. Das Auktionshaus hat sie damals zusammengestellt, aber sie ist frei erfunden. Da wird behauptet, dass eine Familie namens Mandon die ursprünglichen Eigentümer waren, das Instrument sich aber höchstens dreiunddreißig Jahre in ihrem Besitz befunden hatte. Und das würde es kaum zu einem Familienerbstück machen. Ach, und eine Sache ist mir noch aufgefallen: Die Mandons sind allesamt durch ein Gasleck in ihrem Haus umgekommen. Insgesamt fünf Besitzer dieses Harmoniums sind also bei Unfällen gestorben.«
Ich fragte mich, wie viele weitere Besitzer unerwartet den Tod gefunden hatten. Und was war mit dem Instrument in den Jahren zwischen 1960 und seinem Auftauchen in Oslo geschehen?
Will unterbrach meine Überlegungen. »Harper? Bist du noch dran?«
»Ja, ich habe gerade nachgedacht. Vielen Dank, Will. Das war
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