Greywalker
ziemlich unangebracht zu sein. »Aber wie soll das funktioniert haben? Ich verstehe nicht, wie ich an zwei Orten gleichzeitig sein kann, oder wie ich da hinkomme. Ich habe nichts anderes getan als zu versuchen, mich zu retten!«
Ben schwieg. Mara ergriff die Gelegenheit und erklärte nun ihrerseits: »Das liegt in der Natur der Grauwandler. Sie bewegen sich durch das Grau, das, wie ich schon sagte, ein bisschen hier und ein bisschen dort ist. Aber wie Sie es tatsächlich geschafft haben … Nun ja, ich glaube, dass Ihr Gehirn sämtliche Möglichkeiten durchgespielt und sich dann für diese entschieden hat.«
»Sie haben eine Tür geöffnet und sind hindurch gegangen – genau wie bei den anderen Gelegenheiten, aber da geschah es unfreiwillig. Nachdem Sie nun wissen, wozu Sie fähig sind, haben Sie es getan«, ergänzte Ben.
Mara fuhr fort: »Genau, auch wenn ich mir etwas Sorgen darüber mache, dass es nicht bewusst geschehen ist. Dieses Mal war es eine gute Wahl, aber das nächste Mal könnte es schief gehen. Sie sind doch nicht verletzt, oder?«
»Ich habe nur ein paar Kratzer abbekommen, als ich auf dem Boden landete. Aber wieso sind die Verletzungen nicht schlimmer?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Auf jeden Fall ist diesmal ja alles gut gegangen. Aber Sie müssen lernen, diese Fähigkeit zu kontrollieren. Sie können nicht einfach blindlings ins Grau verschwinden und wieder auftauchen. Das Gleiche gilt auch für das Hineingezogenwerden. Auf der anderen Seite könnte etwas Schlimmeres als ein Wagen auf Sie warten.«
Statt zu antworten, hob ich Chaos hoch und ließ ihn mit meinen Fingern spielen.
Ben durchbrach als Erster die Stille. »Harper, wenn Sie uns nicht glauben, dann sollten Sie wenigstens mitspielen -für den Fall, dass wir doch recht haben.«
Chaos sprang mir aus den Armen, um woanders Unruhe zu stiften.
Sobald ich aufhörte, meine Finger zu bewegen, wurde ihm meist langweilig. »Und wenn Sie tatsächlich falsch liegen?«
»Dann haben Sie nichts verloren. Wenn wir allerdings richtig liegen, wird es Ihnen besser gehen. Und wenn Ihre Zweifel tatsächlich so groß sind, warum rufen Sie uns dann überhaupt an?«
Ich fing an, mich zu entspannen. »Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Sich von Mara helfen lassen. Ich lege jetzt auf, damit ihr zwei das untereinander ausmachen könnt.«
Ich konnte förmlich hören, wie Mara zögerte. »Es ist gar nicht so schwer … Ehrlich …«
»Okay. Dann versuchen wir es.«
»Gut. Zuerst einmal müssen Sie die Grenze des Grau erkennen. Am besten fangen wir mit einer Konzentrationsübung an, damit Sie lernen zu fokussieren. Haben Sie schon einmal Yoga gemacht?«
Es war mir ein bisschen peinlich, das zuzugeben. »Etwas Meditation und einige Atemübungen – ja.«
»Dann sollte Ihnen das leicht fallen, man kann es nämlich mit bewusstem Atmen vergleichen. Machen Sie es sich bequem und atmen Sie ganz einfach. Dabei konzentrieren Sie sich auf die Gefühle, die Sie hatten, bevor Sie das Grau betraten. Das ist der Schlüssel. Sobald Sie die Grenze wahrnehmen und diese Sinneseindrücke auf Kommando abrufen können, sollten Sie in der Lage sein, Ihr Energieniveau von einer Sekunde auf die andere zu verändern. Oder eben auch nicht – ganz wie Sie wollen. Sollen wir es mal ausprobieren?«
»Ja, einverstanden.« Ich folgte ihrem Rat und machte es mir bequem, indem ich die Schuhe auszog und mir ein Kissen ins Kreuz schob. »Okay. Und jetzt?«
»Jetzt müssen Sie einfach nur atmen und fühlen. Sobald Sie ein ausgewogenes Gleichgewicht geschaffen haben, sollten Sie versuchen, sich die Sinneseindrücke des Grau zu vergegenwärtigen. Dann öffnen Sie die Augen und versuchen, es zu finden, ehe Sie sie wieder schließen und die Grenze von sich fort schieben. Ich werde hier am Telefon bleiben, bis Sie es geschafft haben.«
Meine letzte Meditation lag bereits eine ganze Weile zurück. Ich legte den Hörer neben mich und schloss die Augen. Dann konzentrierte ich mich auf einen Teil meines Körpers, bis ich nichts anderes mehr spürte. So weit, so gut. Nun begann ich, mein Bewusstsein zu klären und alle Gedanken und Gefühle daraus zu verdrängen, die ich im Moment nicht gebrauchen konnte. Gleichmäßig atmend suchte ich nach meiner inneren Balance.
Als ich mich leer und ausgeglichen fühlte, konzentrierte ich mich auf das, was ich empfand, wenn ich durch die dicke, stinkende Luft fiel, wenn sich der Nebel von Seattle klärte und das Grau freigab. Ich öffnete die
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