Grim - Das Erbe des Lichts
nickte und ließ es zu, dass Hortensius seine Hand auf seine Brust legte und einen Zauber murmelte. Mia hörte noch die letzte Silbe der verschlungenen Zwergensprache. Dann bäumte sich der Boden unter ihr auf, sie wurde durch die Luft geschleudert und landete gleich darauf neben Theryon auf hartem, glatten Grund. Sie hörte, dass auch die anderen aus großer Höhe zu Boden fielen, und fühlte den Aufprall ihrer Körper wie Steinschläge. Keuchend kam sie auf die Beine. Sie hatte sich den rechten Arm aufgeschlagen, warmes Blut lief über ihre Hand. Schnell murmelte sie einen Heilungszauber, hob den Blick — und hätte beinahe die letzten Worte ihrer Formel vergessen.
Sie befand sich in einer gewaltigen Halle aus Stein. Säulen, die so hoch waren wie Kathedralen, hielten eine Decke aus leuchtendem Lapislazuli, während der schwarze Marmor des Bodens die Flammen der Wandfackeln so klar spiegelte, als wäre er eine reglose Wasseroberfläche. Zahlreiche mit Gold umrahmte Türen führten zu zwei Seiten aus der Halle hinaus. Die gesamte Frontseite hingegen wurde von steindurchwirkten Sprossenfenstern verziert, hinter denen rote Lichter flammten wie Schleier aus Abendrot. Die Halle war so groß, dass Mia für einen Moment meinte, sie wäre von Riesen erbaut worden.
Da schob Carven sich an ihr vorbei, und ein weißes Licht flammte in der Mitte der Halle auf, ein Leuchten, in dessen Schein Mia erst nach einem Augenblick ein kostbares Schwert erkannte. Es bestand aus glänzendem Metall, und an seinem Knauf prangte ein funkelnder Rubin. Wie verzaubert schaute Mia auf das Schwert, und auch Hortensius' Augen glänzten bewundernd, als er es betrachtete.
»Hier ist es also«, murmelte der Zwerg. »Nach dem Niedergang des Ordens übergab ich es unserem Baron, auf dass seine Gelehrten einen Ort finden sollten, der ihnen sicher genug erschien für eine solche Waffe. Doch dass sie es hier verstecken würden ...«
Grim zog die Brauen zusammen. »Was soll das heißen? Wo sind wir?«
»Seht«, raunte der Zwerg und deutete zu der breiten Fensterfront. »Seht hinaus!«
Mia folgte seinem Fingerzeig und trat zu einem der Fenster. Sie spürte den leichten Hauch von Magie. Offensichtlich wurden die Fenster von der anderen Seite durch einen Tarnzauber vor neugierigen Augen geschützt. Berge erhoben sich in der Ferne, gewaltige Zinnen aus Stein, und als sie den Blick zu den Füßen des Gebirges sinken ließ, in dem sie sich offensichtlich befand, schaute sie in ein Meer aus glühenden Schleiern. Zuerst meinte sie, in einen glutroten Sonnenuntergang zu blicken oder in die Hitze eines riesigen Feuers. Dann kniff sie die Augen zusammen und erkannte, dass es Rosen waren — unendlich viele Rosen in einem gewaltigen Garten. Sie bildeten verschlungene Hecken, zogen sich an Bäumen empor, blühten in allen Rottönen und verströmten einen zarten und zugleich schweren Geruch aus Süße und Traurigkeit.
Hortensius trat neben sie. »In lang vergangener Zeit, da Riesen und Zwerge die Täler der Alpen bevölkerten, herrschte im Inneren des Berges, den wir heute Rosengarten nennen, Zwergenkönig Laurin über ein unterirdisches Reich. Bis heute ranken sich unzählige Legenden in Menschen- und Anderwelt um diesen König meines Volkes. Seine Rüstung erstrahlte in hellem Gold, seinen Helm zierte eine edelsteinbesetzte Krone, er ritt auf einem zierlichen weißen Pferd, das nicht größer war als ein Reh, und trug, wenn er zum Kampf ritt, einen Speer, an dem eine seidene, wappengeschmückte Fahne flatterte.«
Mia schaute hinab in den Rosengarten, während sie Hortensius zuhörte, und für einen Augenblick sah sie den einstigen König der Zwerge leibhaftig vor sich. Er ritt in wildem Galopp durch die Rosenpfade, sein Pferd wieherte ausgelassen, und die blauen Augen des Zwergs blitzen vor unbändiger Lebensfreude.
»Laurin besaß geheimnisvolle Kräfte«, fuhr Hortensius fort. »Seine Tarnkappe machte ihn unsichtbar, und ein juwelengeschmückter Gürtel gab ihm die Stärke von zwölf Männern. Doch sein ganzer Stolz war ein wunderschöner Garten vor dem Tor seiner Felsenburg, in dem das ganze Jahr hindurch unzählige Rosen blühten und ihren Duft verströmten. Dieser Garten war nur durch eine goldene Pforte zu betreten. Der König wachte streng über die Unversehrtheit seines Gartens. Wer mutwillig einbrach und auch nur eine der Rosen pflückte, verlor zur Strafe die linke Hand und den rechten Fuß. Eines Tages beschloss Laurin, wieder einmal durch die
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