Grim - Das Erbe des Lichts
passen wollte. Schon oft war Mia dieser Zwiespalt aufgefallen, und ebenso häufig war sie Zeugin dessen geworden, was nun geschah.
Theryon atmete ein, langsam und lautlos. Für einen Augenblick hielt er die Luft in seiner Lunge, dann entließ er sie in einem Zug — und mit ihr verschwand jeder Hauch von Sanftheit von seinem Gesicht. Stattdessen zog sich eine Schicht aus Eis darüber hin, eine Maske, die tiefer ging und seinen gesamten Körper bis hinein in seine Gedanken durchdrang. Mia sah Theryon in die Augen, die vollkommen schwarz geworden waren. In Momenten wie diesen wurde ihr bewusst, dass er tatsächlich eine Fee war — ein Wesen aus einer anderen Zeit, fremd und fremdartig und für einen Menschen wie sie nur so lange zu verstehen, wie er sich ihr auf eine Weise zeigte, die sie begreifen konnte. Sie hatte Geschichten gehört von den grausamen und fühllosen Feenkriegern aus der Ersten Zeit, und nicht nur einmal hatte sie erlebt, wie die Bewohner Ghrogonias vor Theryon zurückgewichen waren, wie sie ihn ehrfurchtsvoll und mit größter Demut betrachtet hatten — aber immer mit diesem Schleier im Blick, der sich Furcht nannte. Mia holte Atem, als Theryon ihren Blick erwiderte. Nichts spiegelte sich in der Schwärze seiner Augen, und sie wusste, dass sie nur noch eine dünne Schicht von der Dunkelheit in seinem Inneren trennte. Würde er die Maske vor seinen Augen fallen lassen, kostete sie ein einziger Blick in seine Finsternis ohne Schutzzauber den Verstand. In Momenten wie diesen konnte sie die Furcht der Anderwesen beinahe verstehen.
Theryon fixierte das Tor und schickte einen blauen Zauber in seine linke Faust, dessen Licht seinen Arm umhüllte wie eine Fackel. Dann setzte er sich in Bewegung. Katzengleich sprang er über die Brücke dahin. Mia rannte geduckt hinter ihm her, den Blick fest auf das Tor gerichtet. Sie hatte keine Ahnung, was sie dahinter erwartete, doch Theryon hatte sie auf Situationen wie diese vorbereitet, und auch Jakob war durch seine Schule gegangen. Wortlos verstanden sie, was er von ihnen erwartete, erreichten seine Höhe, flankierten ihn und preschten mit ihm zusammen auf das Tor zu.
Lautlos erhob Theryon sich in die Luft, lief drei Schritte wie über unsichtbare Bretter, zog die Beine an den Körper und stieß kurz vor dem Tor den rechten Fuß vor. Krachend durchschlug er das Portal mit seinem Körper und verschwand in einer Kaskade aus splitterndem Eis. Mia und Jakob pressten sich rechts und links vom Eingang gegen die Wand. Mia hörte die hektischen Rufe von mindestens fünf Feen, sie spürte die heftige Detonation von Theryons Zauber. Weißer Qualm stob aus dem zerbrochenen Tor auf die Brücke hinaus, die Reste eines Lähmungszaubers. Schnell stieß sie sich von der Wand ab und hechtete neben Jakob über die Wellen aus Rauch, um sich gleich darauf auf dem Boden abzurollen. Sofort war sie wieder auf den Beinen und spürte Jakobs Rücken an ihrem. Eilig legte Jakob einen Wall vor das Tor.
Sie befanden sich in einem gewaltigen Saal, dessen kristallene Kuppel von sieben Säulen aus Eis getragen wurde. Hinter der Kuppel lag der Nachthimmel, und der Tanz der Nordlichter warf seine Farben in den Saal. Riesige Fenster prangten an allen Seiten, und in der Mitte des Raumes erhob sich — gehalten von einem kunstvollen Ring aus glänzendem Silber — der blutrote Kristall. Mia spürte, wie sein pulsierendes Licht über ihre Haut floss, und fühlte die rätselhafte Anziehung, die dieser Stein auf sie ausübte. Im selben Moment schoss ein gleißend heller Blitz auf sie zu. Schnell riss sie einen Spiegelschild vor ihr Gesicht und schleuderte den Zauber zum Angreifer zurück, der überrascht gegen die Wand sprang. Schon sah Mia, wie er einen Schwarzbann in seiner Hand formte, er wollte ihr das Gesicht verbrennen bis auf die Knochen. Sie schickte einen Eiszauber in ihre Faust, doch da sprang Jakob vor sie. Mit einem Schrei stieß er ein magisches Schwert aus weißem Feuer in die Luft und parierte damit den feindlichen Zauber, der in schwarzen Schlingen auf ihn zugerast war. Der Feenkämpfer keuchte verächtlich, aber Jakob sprintete schon auf ihn zu, schwang in wahnsinniger Geschwindigkeit sein Schwert durch die Luft — und zog es dem Angreifer quer durch die Brust. Schaudernd sah Mia, wie der Leib des Fremden auseinanderbrach und schwarzes Blut den Boden besudelte. Doch mehr als das erschreckte sie Jakobs Blick. Kein Kampfeswillen lag darin, kein Mut — nicht einmal Hass. Die Augen
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