Grim - Das Erbe des Lichts
dann. »Ich werde Auryl das Leben zurückgeben.«
Theryon zog die Brauen zusammen. »Dazu fehlt dir die Macht«, erwiderte er, doch es klang fast wie eine Frage.
Die Königin lächelte nachsichtig. »Mir schon«, erwiderte sie leise. »Doch mit
ihr
werde ich stark genug sein!«
Mit diesen Worten stieß sie die Hand in die Luft. Grim sah noch, wie ein gleißender Funke aus ihrer Faust stob. Gleich darauf zerriss ein Blitz die Szene, er spürte den Wind auf seinem Gesicht und verstand, dass er auf direktem Weg in eine Illusion war. Er landete auf steinernem Boden. In Wirklichkeit befand er sich noch immer an Deck des Schiffes, doch im Zauber der Königin konnte er sich frei bewegen. Er fand sich in der flirrenden Finsternis eines unterirdischen Gewölbes wieder. Säulen mit winzigen Spiegelscherben hielten die tonnenschweren Gewölbe, Blattgold verzierte die Wände, und überall glommen grüne, rote und blaue Steine wie farbige Korallen. Überhaupt schien es Grim, als wäre er in einer Unterwasserwelt gelandet, auch wenn er die Kühle der Luft in seiner Lunge fühlte. Alles war still und auf eine seltsame Art erhaben, und während er Atem holte, wusste er plötzlich, woher das Gefühl kam: Noch nie zuvor war ein Mensch in diesen Höhlen gewesen, in diesen Räumen aus Silber und Gold — in den A'ng Dh'ùmiel, den unterirdischen Sälen der Feen. Doch anstelle der kunstvollen Möbel, die Grim aus Erzählungen kannte, erhoben sich dicht an dicht gewaltige gläserne Tanks mit metallenen Kuppeln. In regelmäßigen Abständen durchzogen sie den gesamten Raum, gefüllt mit pechschwarzem Nebel. Grim sah seine eigene Gestalt als verzerrtes Spiegelbild, unheimlich hallte sein Atem zwischen den Tanks hin und her, als würde er von gierigen Kehlen aufgesogen und wieder ausgespien.
Da fuhr eisiger Wind zwischen ihnen hindurch, und die Königin trat hinter einem der Behälter vor. Schneeflocken stoben durch die Luft, doch etwas in ihrem Gesicht hatte sich verändert. Ein Schatten lag unter ihrer Haut, Grim schien es, als würde sich ein zweites Antlitz darunter verbergen, ein Gesicht, das er schon einmal gesehen hatte.
Mit
ihr
werde ich stark genug sein.
Wen hatte die Königin gemeint?
Sie trat an den Tank heran, der dicht vor Grim stand, und legte eine Hand auf das Glas. Eisblumen liefen knisternd von ihren Fingern fort. Gleichzeitig erhellte sich der gerade noch schwarze Nebel. Angestrengt schaute Grim in die Finsternis — und fuhr zurück, als ein Gesicht aus der Dunkelheit auftauchte, das bleiche, ängstlich verzerrte Gesicht eines Kindes. Es war ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Ihre hellen, langen Haare bewegten sich im Wasser wie in einem Sturm. Sie hielt die Augen geschlossen, als würde sie schlafen, doch ihre Lider zuckten unkontrolliert wie bei einem Albtraum.
»Menschen«, flüsterte die Schneekönigin, doch es war nicht ihre Stimme, mit der sie sprach. Grim zog die Brauen zusammen. Er hatte diese Stimme schon einmal gehört — doch wo?
Die Königin betrachtete das Mädchen hingegeben. »Sie haben die größte Stärke in sich, die diese Welt kennt ... die einzige Kraft, die wirklich zählt. Aber sie erkennen sie nicht. Sie nutzen sie nicht. Ich — ich werde sie nutzen. Sie ist das Einzige, das an den Menschen von Wert ist. Und ich werde sie mir nehmen ... die Kraft des Ersten Lichts, die in den Menschenkindern noch in reiner Form wohnt. Kein Leben mehr in der eisigen Kälte des Geistes ...« Die Schneekönigin presste beide Hände gegen das Glas des Tanks. »Ein Leben — mit Kinderaugen!«
Mit diesen Worten warf sie den Kopf zurück und rief einen Zauber. Im gleichen Moment schob sich der Schatten ihres zweiten Gesichts von innen gegen ihre Haut und verwandelte ihre Züge in das Antlitz einer Fee mit pechschwarzen Augen und einem boshaft verzogenen Mund aus Gier. Grim hielt den Atem an. Im Körper der Schneekönigin steckte Morrígan — die Urfee und Kinderfresserin!
Kaum hatte er das gedacht, glitten Nadeln und Schläuche aus dem Boden des Tanks und schoben sich tief unter die Haut des Mädchens. Sie schrie, doch ihre Stimme verklang in den farbigen Nebeln, die wie wahnsinnig um sie herum zu tanzen begannen. Die Adern des Mädchens wurden dick und schwollen an, und Grim erkannte, dass die Nebel zunehmend bunter wurden, je stärker der Körper des Kindes verfiel. Die Farben schienen aus dem Kind selbst zu kommen — wie feine Ströme aus Licht oder ein Duft, der aus seiner Haut drang und es mit einer
Weitere Kostenlose Bücher