Grim - Das Erbe des Lichts
sehen. Da riss der Junge seinen Blick los und rannte auf das Schwert zu, das zwischen den Säulen lag.
»Nein!«
Der Schrei der Königin kam wie aus tausend Kehlen, donnernd schlug er gegen die Wände, riss Carven von den Füßen und schleuderte das Schwert zurück in ihre Hand. Im selben Moment richtete sie sich auf. Grim sah, wie sie die Arme ausstreckte und einen Zauber über die Lippen brachte, dunkel und grollend, als wäre es nicht ihre Stimme, mit der sie sprach.
Für einen Moment wurde ihr Körper pechschwarz wie verbrannt. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und brüllte. Wie eine explodierende Steinschicht zersprang der Zauber, den Grim und Carven über sie gelegt hatten, und sie mussten in Deckung gehen vor zischenden Überresten, die unkontrolliert in den Wänden und der Decke einschlugen. Grim sah noch, wie ein magisches Geschoss Carvens Schläfe traf und der Junge bewusstlos zu Boden fiel. Dann schlug ihm ein goldener Wirbel vor die Brust und riss ihn mit sich gegen die Wand. Theryon hing an der gegenüberliegenden Säule reglos in den Schnüren der Königin, und Grim spürte die Kälte, die über Theryons Stirn strich ebenso wie das Blut, das über seine eigene Brust lief. Doch ehe er sich heilen konnte, packte ihn eine eisige Klaue an der Kehle. Schwer atmend schaute er in das halb zerfressene Gesicht der Schneekönigin und spürte die Bannmagie, die sie in seinen Körper schickte. Die linke Hälfte ihres Gesichts war bis auf den Knochen verbrannt, und darunter starrte Grim ein anderes Antlitz entgegen, ein lächelndes, grausames Gesicht mit teerschwarzen Augen — das Gesicht Morrígans.
Die Königin grub ihre Krallen tief in Grims Hals, während sich ihr Mund dem seinen näherte. »Wieso«, zischte sie, doch ihre Stimme war ein Meer aus Tönen wie ein Insektenschwarm, in dem jedes Tier sein eigenes Schnarren verlauten ließ. »Wieso stehst du nicht auf meiner Seite? Im L'hur Bhraka habe ich gesehen, dass du dem Kind misstraust! Du solltest mich nicht bekämpfen! Du wirst niemals heimisch werden in einer Welt, in der die Menschen regieren! Sie werden dich niemals erkennen und wenn doch, werden sie dich hassen für das, was du bist — wie sie mich hassen! Denn du bist ein Anderwesen — wie ich!«
Grim spürte die Schatten ihres Zaubers, die nach seinem freien Willen griffen, aber er starrte sie mit aller Entschlossenheit an, die er besaß. »Du irrst dich«, grollte er leise. »Ich bin nicht wie du. Ich bin mehr, als du jemals erahnen kannst. Eines Tages werden die Menschen mich erkennen. Sie werden ihren Weg finden durch die Wüste, die sie sich geschaffen haben, und am anderen Ende werde ich auf sie warten. Und dann werden wir die Welt verwandeln, ohne Kriege und Blutvergießen, sondern mit den Kräften, die in uns wohnen und die uns einander so ähnlich machen, als wären wir nichts anderes als zwei Seiten einer Münze.«
Grim sah den Zorn im Gesicht der Königin, sah ihre Verzweiflung — und wie sich die Maske vor ihren Augen langsam hob. Sofort stürzte Grim vornüber in ihre Finsternis, und obwohl der Schutzzauber Theryons die Schatten der Königin von seinem Inneren fernhielt, spürte er, wie sich seine Lunge zusammenpresste unter dem Eindruck vollkommener Finsternis. Atemlos starrte er der Königin ins Gesicht, unfähig sich abzuwenden, und erkannte darin den Hohn Morrígans, der nun als dunkler Nebel aus ihrem Mund kroch. Ein Nebel aus Gift war es, der mit feinen Nadelstichen in Grims Haut eindrang, der sein Blut vergiften und ihn töten würde. Schon spürte er den Todeshauch, der mit Morrígans Zunge über seine Haut leckte, und hielt die Stimme, die plötzlich durch seine betäubten Gedanken fegte wie ein kalter Windstoß, im ersten Augenblick für eine Wirkung ihres Zaubers. Grim, hörte er Mias Stimme in seinem Kopf und wusste plötzlich, dass das keine Illusion war.
Beeil dich.
Er spürte, wie Morrígan vor dieser Stimme zurückwich, wie sie unwillig kältere Schatten aussandte und doch nicht verhindern konnte, dass Grim auf Mias Stimme hörte und nicht auf ihre. Mia brauchte ihn. Er würde sie nicht allein lassen.
Mit aller Kraft, die ihm noch verblieb, schlug er seine Klaue gegen die Schulter der Schneekönigin und stieß sie von sich. Sie schrie auf, für einen Moment flackerte der Bann auf Grims Haut. Im selben Augenblick hörte er Theryon keuchen und wusste, dass der Zauber der Königin sein Ziel fast erreicht hatte: Nur noch wenige Atemzüge trennten den Feenkrieger
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