Grim - Das Erbe des Lichts
ich hielt ihn immer für eine Art ... nun ja, Legende.«
Theryon lächelte ein wenig. »Das ist verständlich, denn kein Anderwesen und auch kein Mensch ist fähig, diesen Zauber zu sehen — außer uns Feen.« Nachdenklich ließ er den Blick auf Mias Gesicht sinken und betrachtete den blauen Nebel, der langsam seine Farbe verlor. Dann hob er den Kopf. »Aber vielleicht ist es an der Zeit, dass ich ihn euch zeige.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, trat er von Mias Bett zurück und rief Milo zu sich. Grim spürte die Aufregung des jungen Mannes, als Theryon leise Worte zu ihm sprach, und sah gleichzeitig den Eifer und die Pflichtergebenheit in dessen Augen. Für Milo war der Feenkrieger ein strahlender Held, das konnte Grim sehen — und er gab ihm heimlich recht.
Als hätte er Grims Gedanken gehört, wandte Theryon den Kopf halb zurück und zog mit reiner Gedankenkraft einen Holzstuhl zu sich heran, auf dem Milo Platz nahm. Dann hob Theryon die linke Hand, flüsterte einen Zauber und fuhr in ausholender Geste über seinem Kopf durch die Luft. Es sah aus, als hielte er ein unsichtbares Tuch in den Händen — und Grim stieß ebenso wie Remis und Milo einen Laut des Erstaunens aus, als die Decke wie ein zerknittertes Laken beiseiteglitt und den Blick freigab auf einen prachtvollen Nachthimmel Grim wusste, dass es sich um eine Illusion handeln musste — aber die Sterne und die samtene Dunkelheit des Firmaments wirkten so echt, dass er fast meinte, den Staub der Sternschnuppen auf seinen Wangen zu fühlen, die über den Himmel glitten. Inmitten der Sterne prangte, riesig und in silbriges Licht getaucht, der Mond in voller Kraft.
Lautlos trat Theryon hinter Milos Stuhl und legte ihm die Hände auf die Schultern. Grim hörte den Feenzauber, den Theryon sprach, und sah im selben Augenblick die silbernen Schleier, die den Mond und alle Sterne wie fließende Tücher umgaben. Auf einmal schienen Mond und Sterne heller zu strahlen, es war, als hätte jemand ein Licht in ihnen entzündet, und als Grim den Blick wandte und zu Milo hinüberschaute, erkannte er zu seinem Staunen einen gleißend hellen Stern in dessen Brust, von dem mehrere kaum sichtbare Schleierfäden bis hinauf zum Mond und zu den Sternen führten, als wäre der Mensch in seinem Inneren mit ihnen verbunden. Kaum hatte er das gedacht, bemerkte Grim auch um Milo herum die Schleier, die oben den Mond und die Sterne umgaben. Sie umflossen seinen Körper wie Nebelfäden, und noch ehe Grim an sich selbst hinunterschaute, wusste er, dass auch er einen leuchtenden Stern in seiner Brust trug und zarte Nebelfäden hinauf zum Mond und zu den Sternen liefen und zu allem anderen, das von den silbernen Schleiern umwoben und durchflossen wurde. Er hörte Remis neben sich Atem holen und wandte den Blick wieder dem Mond zu, der nun in samtenem Licht seinen Schein zu ihm niederschickte.
Und dann hörte er Theryons Stimme. Er wusste nicht, ob er in Gedanken zu ihm sprach, doch jedes Wort des Feenkriegers wurde am Firmament zu einem fallenden Stern, der, kaum dass er am Boden gelandet war, in tausend Funken zersprang und den Raum in eine atemlose und zugleich friedliche Mondnacht verwandelte. Das Zimmer verschwand, und Grim fand sich in einem Wald wieder. Hinter ihm lag düsteres Unterholz, doch er schaute aus der Dunkelheit ins Helle, hinaus auf eine Lichtung voller Blumen in einem wilden Weizenfeld — und darüber prangte der Mond. Silberne Schleier umwoben die Blumen, die Ähren, jeden Stein auf dem gewundenen Pfad, der durch den Wald führte, und alles war durch zarte Nebelfäden mit allem anderen verbunden. Es war ein Bild von solcher Schönheit, dass Grim keine Worte dafür fand. Nie zuvor, das wusste er, hatte er etwas Ähnliches gesehen. Theryon begann, ein Gedicht von Joseph von Eichendorff zu zitieren, und seine Worte flüsterten in den Wipfeln der Bäume und strichen sanft über die Lichtung hin.
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Theryons Stimme klang in Grim nach wie eine lang vergessene Melodie, doch erst als es vollkommen still um ihn geworden war, wurde ihm bewusst, dass er zu atmen aufgehört hatte. Rasch sog er die Luft ein.
»Ihr seht den Zauber des Ersten
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