Grim - Das Erbe des Lichts
Lichts«, sagte Theryon wie aus weiter Ferne, und Grim brauchte einen Augenblick, bis er den Feenkrieger und Mio im silbernen Schein des Mondes erkannte. »Die Poesie der Welt. Sie ist lebensnotwendig für jedes Geschöpf, und sie ist mit allem verbunden. Ihre Kraft wächst, je stärker wir uns von ihr verzaubern lassen, je tiefer wir den wahren Sinn der Dinge erfühlen. Dann erscheint uns der Mond als Zauberer, der die Welt mit dunkler Kraft durchdringt und mit dem wir auf geheimnisvolle Weise verbunden sind. Doch die Menschen haben verlernt, auf diese Weise auf die Welt zu blicken.«
Er hob die Hände und legte sie fest auf Milos Schläfen. Grim schrak zusammen, als Theryon erneut zum Sprechen ansetzte. Die Stimme des Feenkriegers klang hart und kalt, und Grim meinte fast, die Wortsplitter selbst zu fühlen, die er durch seine Finger in Milos Kopf sandte und mit ihnen dessen Gedanken zerschlug.
»Was siehst du in Wirklichkeit dort oben?«, fragte Theryon mit seltsam fremder Stimme. »Einen Freund, einen Zauberer? Mach dich nicht lächerlich! Ein lebloser Gesteinsbrocken ist es, bestehend aus Basalten und Anorthositen, die aus calciumreichem Plagioklas, Olivin, Pyroxen zusammengesetzt sind, ein zufällig auf seiner Umlaufbahn dahintrudelnder Haufen Schutt ohne Atmosphäre und — lässt man die Gezeiten außer Acht — ohne nachweisbare Einwirkungen auf die Erde.«
Milo keuchte unter seinem Griff, und Grim sah zu seinem Entsetzen, wie sich der Stern in dessen Brust schwarz verfärbte. Und wie Tinte, die über einen Faden läuft, zog die Schwärze aus seinem Inneren in die Nebelfäden, über die der junge Mann mit allem verbunden war. Schon färbten sich die silbernen Schleier der ersten Sterne schwarz, ihr Licht fiel mit finsteren Schatten auf die gerade noch schimmernden Blumen. Grim atmete schnell, er sah, wie die Blüten welkten und schwarz wurden, und konnte den Anblick kaum ertragen. Die Ähren des Feldes krümmten sich zusammen und knickten, die Bäume des Waldes wurden durchscheinend wie die Illusion, die sie waren, und als Theryon erneut zum Sprechen ansetzte, zogen sich dunkle Schatten über den gerade noch so geheimnisvoll schimmernden Mond. »Ein Klumpen aus Schlacke und Staub«, sagte Theryon kalt. »Das ist alles, was du siehst. Ein wesenloser, toter Haufen aus Nichts.«
Grim schaute hinauf zum Mond, der ihm gerade noch wie ein lebendiges Wesen voller Zauber erschienen war, ein Seelengefährte, der sein Licht wie eine zärtliche Umarmung um seine Schultern gelegt hatte. Nun blickte Grim in den fahlen Schein und empfand nichts mehr außer einer dumpfen Leere und Resignation, die aus der Mitte seiner Brust entsprang und mit lähmender Kälte seine Glieder durchzog. Der Zauber des Ersten Lichts war verschwunden — und zurückgeblieben war eine tote und fühllose Hülle der Welt. Grim starrte auf eine Kornblume, die sich eben noch in samtblauer Farbe dem Mond entgegengestreckt hatte. Nun war sie schwarz geworden wie all die anderen, als hätte sie jemand mit klebrigem Öl übergossen, und dann, still und belanglos, fielen ihre Blütenblätter auf den schattigen Grund und zerbrachen in geisterhaften Nebel.
Grim spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog, doch es war nicht sein Schrei, der plötzlich die Stille zerriss. Mio war es, der mit einem Satz von seinem Stuhl sprang und zu der Blume hinstürzte, die im nächsten Augenblick in seinen Händen zerbrach und nichts als Nebel an seinen Fingern zurückließ. Gleich darauf zerriss der Zauber, den Theryon über sie alle gelegt hatte.
Atemlos fand Grim sich in dem Zimmer neben Mias Bett wieder. Sie schlief regungslos, doch Grims Herz schlug wie ein Dampfhammer in seiner Brust. Schweigend trat Theryon zu Milo, legte unter leisen Zauberworten seine Hand auf dessen Brust und forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen. Mio folgte seiner Anweisung, woraufhin Theryon sich zu Grim und Remis umwandte.
»Die Menschen leben in einer Wüste«, sagte er leise. »Und sie wissen nichts davon. Dort, wo früher Wunder und Geheimnisse wohnten, regieren jetzt blinder Rationalismus und Ignoranz. Die Menschen wehren sich schon lange nicht mehr gegen die Entzauberung ihrer Welt. Sie selbst tragen das Erste Licht in sich, selbst wenn sie alles tun, um es zu ersticken — wir Feen hingegen nicht, wir sind darauf angewiesen, dass dieser Zauber in der äußeren Welt nicht vernichtet wird und uns so durchströmen kann. Doch die Menschen haben meinem Volk mit jedem weiteren Schritt
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