Grim - Das Erbe des Lichts
auf ihrem Irrweg die Luft zum Atmen genommen. Daher zog es sich nach und nach in die Welt der Feen zurück, auch wenn einige von uns sich gegen das Exil wehrten. Anfangs kehrten die Feen noch hin und wieder in die Menschenwelt zurück oder holten Sterbliche zu sich ins Feenreich. Doch je mehr sich der sogenannte wissenschaftliche Fortschritt in der Menschenwelt durchsetzte, desto gefährlicher wurde es für eine Fee, ihre Welt zu verlassen, und bald schon wurden mächtige Zauber benötigt, um mein Volk in der Menschenwelt vor der entzauberten Atmosphäre zu schützen. Nur erfahrene Krieger konnten für kurze Zeit ohne Schutz in der Menschenwelt überleben. Seht mich an: Ich, die einzige Fee, die in dieser Welt noch existiert, muss mich unter großen Schmerzen in regelmäßigen Abständen erneuern, um zu überleben. Darüber hinaus vermag ich es nicht, meine vollen Kräfte zu entfalten, denn dafür müsste mich die Feenmagie umgeben — und diese hat die Welt der Menschen verlassen. Denn der Rückzug meines Volkes aus dieser Welt war ein schmerzhafter Prozess, der seine Zeit brauchte, er währte sehr lange, doch eines Tages wurde die Grenze zwischen den Welten endgültig verschlossen — und so ist es bis heute. Ich allein blieb in dieser Welt zurück.«
Remis schluckte hörbar. »Der Zauber des Ersten Lichts«, murmelte er ehrfürchtig und schaute zur Decke hinauf, als würde er sich wünschen, noch einmal den Mond inmitten der silbernen Schleier zu erblicken — und sei es nur für einen winzigen Moment.
»Die Menschen vernichten die Poesie der Welt«, murmelte Grim. »Und da die Feen diesen Zauber so nötig brauchen wie andere Wesen die Luft ...«
Theryon schüttelte den Kopf. »Nicht nur wir Feen brauchen ihn lebensnotwendig«, erwiderte er sanft. »Sondern alle Wesen. Wir spüren nur schneller und deutlicher, wenn er uns fehlt. Inzwischen hat die Entzauberung so sehr zugenommen ...«
»... dass es nicht mehr als ein gemeinsamer Freitod wäre, wenn die Feen hierher zurückkehrten«, stellte Grim fest. »Es sei denn, sie würden sich schützen.«
Theryon trat neben Mias Bett. »Und das haben sie getan — mit Mias Hilfe. Seht!« Er streckte drei Finger über Mias Brustkorb aus und formte sie zur Klaue. Grim sah, wie die letzte Farbe aus dem Nebel wich, der langsam in Mias Körper einsank. Ihre Haut wurde bleich und durchscheinend, bis er die feinen Äderchen darunter sehen konnte. Und in ihrem Brustkorb funkelte ein strahlend helles Licht. Es war eine Scherbe aus Eis. Erschrocken sprang Grim auf, Remis sauste gleichzeitig in die Luft. Doch Theryon stand regungslos, die Hand noch immer zur Klaue geformt, und hob langsam den Blick.
»Die Alben haben Mia diese Scherbe eingepflanzt«, sagte er leise. »Seit jeher ist sie ein Instrument jener Königin, die ihr gesehen habt. Mit dieser Waffe konnte sie Mias Sehnsucht nach Jakob ausnutzen. Vermutlich hat sie Mia glauben lassen, dass sie ihren Bruder aus der Feenwelt befreien könnte, wenn sie einen bestimmten Zauber spricht — doch in Wahrheit war es das Schutzritual für die Feen, die sich in dieser Welt befinden.«
Mia stöhnte leise, als hätte sie Theryons Worte gehört. Sanft strich der Feenkrieger über ihre Stirn, und Grim sah zu, wie sich ihre Haut wieder in die eines Menschen verwandelte. Nur der Bereich über der Scherbe in ihrer Brust blieb durchsichtig wie ein Körper aus Glas.
»Soll das heißen, dass die Königin Mia mit diesem ... diesem Ding kontrolliert?«, fragte er und spürte einen eisigen Hauch über sein Gesicht streichen, als er die Scherbe anstarrte.
Theryon nickte. »Ich werde sie vom Einfluss der Königin befreien. Tretet zurück, und was auch immer geschieht: Seht sie nicht an.«
Seine Worte klangen ruhig und klar, doch Grim sah den angespannten Ausdruck auf Theryons Gesicht, dieses dunkle, gefährliche Flackern in seinen Augen, und für einen Moment konnte er die Anderwesen verstehen, die sich in Furcht und Misstrauen von dem letzten Krieger der Feen fernhielten. Gerade wollte er fragen, wen Theryon meinte, als dieser die Hände hob und sie dicht über die Scherbe in Mias Brust hielt. Langsam schloss er die Augen, und gleichzeitig erloschen die Lichter im Raum. Angespannt hörte Grim die Worte, die Theryon sprach. Es waren Worte in der Sprache der Ersten Feen, Grim verstand sie nicht, aber ihre Macht strich ihm mit Grabeskälte über die Wangen, und Remis zog fröstelnd die Schultern an. Theryon verfiel in einen betörenden Gesang,
Weitere Kostenlose Bücher