Grim - Das Erbe des Lichts
Schulter. »Die Menschen sind euch gleichgültig«, sagte er mit seiner kühlen, von Alter und Weisheit getragenen Stimme. »Aber ihr vergesst, dass ein Mensch euch vor weniger als einem Jahr das Leben rettete. Dieses Mädchen zog für euch in die Schlacht. Sie riskierte ihr Leben für euch. Und was ist euer Dank dafür? Ihr begegnet ihr mit Abscheu und Missfallen — glaubt nicht, dass sie eure Blicke nicht bemerken würde! Denn sie ist klug, klüger als die meisten von euch, und wenn sie für eine freie, eine geeinte Welt kämpft, tut sie das nicht nur für sich und ihr Volk. Erinnert euch! In früheren Zeiten lebten wir alle in Freiheit! Niemand musste sich im Untergrund verbergen aus Angst vor den Menschen, wie wir es jetzt tun!«
Ein Raunen ging durch die Reihen, Grim hörte vereinzelten Applaus. Doch Irdas schüttelte den Kopf. »Die Zeiten ändern sich«, erwiderte er kalt. »Und Menschen sind tückisch. Heute noch sind sie dein Freund — und morgen schlagen sie dich nieder mit tödlichen Waffen. Wir Gargoyles haben den Menschen gegenübergestanden in den blutigsten Schlachten, die diese Welt jemals erlebt hat! Wir wissen, wozu sie fähig sind! Daher sage ich: Lasst die Feen kommen! Lasst sie die Menschen wegwischen, wie wir es vor langer Zeit selbst hätten tun sollen!«
Schrille Pfiffe zerrissen die Luft, aufgebrachte Zwischenrufe polterten die Reihen hinab. Es gab Widerstand gegen diese Auffassung, lautstark wurde er kundgetan. Doch Grim sah auch die verschränkten Arme vor steinernen Brüsten und die mürrischen, ablehnenden Gesichter unter den Anderwesen, die Irdas zustimmten. Ein Schatten bemächtigte sich seiner, eine Unruhe, die er die ganze Zeit über vorausgesehen hatte und die nun über ihm schwebte wie eine drohende Wolke aus Gift.
Da erhob sich ein Hybrid. Er hatte hinter der Reihe der Mutanten Platz genommen. Sein braunes Haar fiel ihm in weichen Locken in die Stirn, seine dunklen, sonst so sanften Augen blickten nun aufgebracht und zornig über die Reihen. Grim fixierte ihn mit seinem Blick. Das war Morl, der junge Hybrid, der Mia vor Seraphin gerettet und jahrelang im Untergrund Ghrogonias gelebt hatte. Inzwischen war er Senator geworden und vertrat die Interessen der gemäßigten Hybriden, wodurch er in ständigem Konflikt stand mit den konservativen Gargoyles und den radikalen Anhängern seines eigenen Volkes.
»Vermutlich ist es zu viel verlangt, dass ein Gargoyle jemals etwas wie Mitgefühl für die Menschen zeigen kann«, sagte er mit dunkler Stimme. »Aber vergesst eines nicht: Unzählige Menschen haben durch den Überfall auf den Louvre Anderwesen gesehen. Gerade in diesem Moment verändert sich ihre Welt durch einströmende Magie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie der Anderwelt und damit auch uns auf die Spur kommen. Darüber hinaus habt ihr Gargoyles ein zusätzliches Eigeninteresse daran, dass die Menschen am Leben bleiben: Habt ihr die Vernichtung der Traumsammelstation im vergangenen Herbst so schnell vergessen? Wahnsinnig sind viele von euch geworden, und noch immer können einige Gargoyles nicht furchtlos an den gläsernen Schloten vorübergehen aus Angst, von den Träumen geflutet zu werden, die gleichzeitig ihre Existenz begründen!«
Irdas stieß die Luft aus. »Ja, die Station wurde zerstört — durch Hybriden wie dich!«
Da sprang Mourier auf. Selten äußerte er sich als König zu den Diskussionen im Senat, und daher verstummte jedes Gemurmel sofort, nun, da er es tat.
»Genug!«, rief er, und Grim hörte den Zorn in seiner Stimme. »Es ist wahr: Wir, die Gargoyles, haben nach den Vorkommnissen im vergangenen Herbst und zahlreichen Rebellenübergriffen in den Jahren davor allen Grund, einigen Hybriden zu misstrauen — andere hingegen haben an unserer Seite gekämpft. Sie haben ebenso wie die Mutanten ihr Leben riskiert, während viele von uns — darunter auch Ihr, Senator Irdas — willenlos auf den Ebenen vor der Stadt herumstanden. Es überrascht mich nicht, immer noch Hass in unseren Reihen zu spüren, doch vergesst eines nicht: Schon einmal hat er uns, gepaart mit Furcht und Neid, in die Irre geführt. Ghrogonia soll eine Stadt des Friedens sein — die Stadt aller! Ich werde weder Hetzreden noch Hassgefühle in diesen Hallen dulden. Niemals! Ist das klar?«
Grim sah die erstarrten Gesichter der Senatoren und hätte für einen Augenblick beinahe laut gelacht. Wie die Kinder saßen sie vor ihrem König, diesem Löwen, der noch vor knapp einem Jahr eine
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