Grim - Das Siegel des Feuers
als sie zugeben wollte, aber sie war fest entschlossen, sich nicht einwickeln zu lassen. »Glaubst du ihm etwa seine Geschichte von der freien Welt und dieses ganze friedliche Getue? Er hat mich quer durch ganz Paris gehetzt und Feuerbälle nach mir geworfen! Ist das etwa der neue Pazifismus?« Mia atmete aus. Es tat ihr gut, ihrer Verwirrung freien Lauf zu lassen, indem sie Seraphins Worte niederredete.
Doch Morl lachte nur. »Und was hat er deiner Meinung nach vor?«
Mia hatte schon den Mund geöffnet, als sie merkte, dass sie keine Antwort darauf hatte. Sie dachte daran, wie leidenschaftlich Seraphin von der Freiheit der Völker und einer vereinten Welt gesprochen hatte. Aber sagte er die Wahrheit? Oder täuschte er sie, weil er das Zepter an sich bringen wollte — aus welchem Grund auch immer? Sie zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Ich habe nur sein Wort. Er kann mir viel erzählen. Und außerdem — selbst wenn er es ernst meint: Nicht alle Wesen sind so edel, wie sie sein müssten, damit dieses Projekt funktioniert. Wo will er eine Gesellschaft bauen, wie er sie sich vorstellt? Im Garten Eden?«
Morl sah sie ernst an. »Diese Ironie hätte ich dir nicht zugetraut.«
»Ich überrasche die Leute gern«, gab sie zurück. »Besonders, wenn sie so naive Ideen haben oder sich von großen Worten blenden lassen. Du hast es doch selbst gesagt:
Vielleicht wird es uns gelingen!
Vielleicht, vielleicht!«
Schweigend betrachtete er sie, mit demselben prüfenden und suchenden Blick wie damals in der Gasse Ghrogonias. »Ich glaube dir nicht, dass du wirklich so denkst«, sagte er dann. »Du hast mir das Leben gerettet, erinnerst du dich? Du hättest ebenso gut weglaufen können. Alles wäre einfacher gewesen, wenn du es getan hättest. Das Risiko war groß, dass du erwischt wirst — und die Chance, dass es dir tatsächlich gelingt, mir zu helfen, war klein. Dennoch hast du es getan. Trotz des Vielleichts — oder etwa nicht?«
Sie schob das Kinn vor. »Ja, weil man gewisse Dinge einfach tun muss, sonst ...« Sie stockte.
Er grinste breit. »Sonst was?«
»Sonst ist man nicht mehr wert als der Dreck unter den Nägeln.«
Er nickte langsam. »Und aus demselben Grund folge ich Seraphin. Mag sein, dass seine Ideale scheitern werden. Möglich, dass ich alles verliere, was ich habe — und ich habe nicht besonders viel. Aber ich werde der bleiben, der ich bin — selbst wenn ich sterben sollte in diesem Gefecht. Ich habe mich dem Kampf gestellt. Was bleibt von uns übrig, wenn wir nicht bereit sind, das für unsere Hoffnungen und Träume zu tun?«
Er hielt inne, und Mia war froh darum. Sie hatte Morl schon bei ihrer ersten Begegnung gemocht, schon damals war es ihr vorgekommen, als würden sie sich bereits sehr lange kennen. Aber jetzt, da er auf diese Weise mit ihr sprach, musste sie an Jakob denken. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft dagegen, aber sie wusste, dass sie genauso fühlte wie Morl. Ärgerlich stieß sie die Luft aus. Von allen Seiten redeten sie auf sie ein, es war ja kein Wunder, dass sie langsam weich wurde. Entschlossen schüttelte sie den Kopf.
»Es wird schon seine Gründe haben, warum er ausgerechnet euch Rebellen zu sich gerufen hat«, sagte sie. »Was will er mit euch anstellen? Ihr gebt eine ganz passable Armee ab, könnte ich mir denken. Gargoyles, Schwarzmagier, Rebellen — damit kann er sicher einiges anfangen.«
Morls Augen wurden schmal. Für einen Moment glaubte Mia, dass er aufstehen und gehen würde. »Das denkst du?«, fragte er, und Mia hörte zum ersten Mal einen Anflug von Wut in seiner Stimme. »Du weißt nichts von uns. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man in der Gosse leben muss und dafür getötet werden kann, dass man sich kein Halsband umbinden lässt. Du weißt nicht, wie wir lebten, bevor er kam. Wir mussten uns verstecken — in versifften Tunneln, modrigen Gängen oder zugigen Metroschächten. In Ghrogonia war unser Platz klar: ganz unten.« Er sprang so schnell auf, dass Mia zurückwich. Entschuldigend hob er die Hände. »Ich kann dir viel erzählen. Aber du wirst mir ebenso wenig glauben wie Seraphin — es sei denn, du siehst es mit eigenen Augen. Komm mit mir. Ich will dir etwas zeigen.«
Er ging zur Tür und hielt sie ihr auf. Mia überlegte nicht lange. Vielleicht ergab sich auf dem Weg wohin auch immer eine Möglichkeit zur Flucht — oder sie würde herausfinden, ob sie Seraphin trauen konnte. Kaum hatte sie den Flur betreten, wurde ihr klar, dass
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