Grim - Das Siegel des Feuers
an seiner Wange. Er hörte, wie sie in Gedanken mit ihm sprach, sie sagte ihm Worte, die er nicht denken, nur empfinden konnte, und als sie ihre Hand zurückzog und sich von ihm verabschiedete, war er vollkommen ruhig.
Grim stieg eine Treppe hinauf, die Moira ihm gewiesen hatte. Sie war alt, und je höher er kam, desto deutlicher drang ihm ein Geruch in die Nase, ein Geruch wie — noch ehe er den richtigen Begriff dafür gefunden hatte, gelangte er in einen dämmrigen Raum. Er wusste sofort, wo er war. Schon setzte die Orgelmusik ein, er wollte fliehen, aber kaum dass er sich umgewandt hatte, zog ihn ein Gefühl doch weiter. Er hatte sich entschieden. Er würde seinen Schatten begegnen — er würde nicht länger vor ihnen davonlaufen. Sein Herz schlug schmerzhaft in seiner Brust. Schritt für Schritt ging er die Kanzel hinauf und erreichte die Orgel.
Zuerst sah er seine Hände, weiß und schmal, dann das schwarze Priestergewand, das ihn noch dünner wirken ließ, und schließlich sein Gesicht, blass und schon gezeichnet von der Krankheit. Er hielt die Augen geschlossen, während seine Finger wie Schmetterlinge über die Tasten flogen.
»Da sind Sie also«, sagte der kleine Mann mit einem Lächeln, ohne Grim anzusehen. »Setzen Sie sich zu mir, kommen Sie, ich möchte wissen, wie sich diese Klauen mit der Musik vertragen.«
Und wie in seinem vorigen Leben ließ Grim sich neben Monsieur Pite auf dem Boden nieder, ließ es zu, dass der kleine Pfarrer seine Klauen über die Tasten führte, und erschauderte wie damals vor dem ersten Ton, den er dem Instrument entlockte. Das Husten unterbrach Monsieur Pite, Grim schaute wieder in die glänzenden Augen seines Freundes, und wie damals sprang er auf, entsetzt von der Erkenntnis, die er in dessen Blick gefunden hatte.
»Ich hätte mir ein anderes Ende für meine Rolle gewünscht«, sagte Monsieur Pite und sah ihn an, so ernst, dass Grim es kaum ertragen konnte. »Ich verstehe wenig von dem, was Gott tut — manchmal bin ich mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt dahintersteckt, wenn Sie verstehen ...« Er hustete, Grim sah das Blut in seinem Taschentuch und war hilflos und betäubt wie damals. »Aber Sie dürfen nicht trauern, hören Sie? Nicht zu sehr, im Mindesten ... Denn es wäre eine sehr lange Traurigkeit, wenn Sie sie bis an Ihr Ende mit sich schleppen müssten. Denken Sie an das, was wir hatten — wir beide. Das ist mehr als jedes traurige Ende — mehr als alles Leid der Welt. Vergessen Sie niemals das Glück, mein Freund — sonst könnte es Sie für immer verlassen.«
Grim spürte den Schmerz in seiner Kehle, als Monsieur Pite aufstand, zitternd, als würde er frieren, und zu ihm trat.
»Und eines hat Gott doch für mich getan«, sagte der kleine Pfarrer, und plötzlich war es wieder da, dieses Lächeln, das sein Gesicht so jung machte. Er legte seine Hand auf Grims Brust. »Sie glauben gar nicht, was es für mich bedeutet, in diesem Herzen zu bleiben.«
Sein Lächeln ging Grim nach, während er durch die Falltür aufwärtskletterte, die auf einmal erschienen war, es ging ihm nach und wärmte ihn auf seinem Weg durch die Dunkelheit. Dann wurde es blasser und versank wie ein Funke in der Finsternis von Grims Brust, noch immer leuchtend, noch immer warm.
Grim blieb stehen, und kaum hatte er das getan, wurde es hell um ihn herum. Er roch den Duft des Petroleums und wusste, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um das Zimmer wieder zu verlassen, in dem er nun stand. Doch stattdessen öffnete er die Augen und blieb. Petroleumlampen standen auf schäbigen Bücherregalen. Der Schreck schoss Grim in die Glieder, und noch ehe er seine Stimme hörte, wusste er, dass Jakob da war. Er saß hinter ihm auf dem klapprigen Stuhl und blätterte in einem uralten Buch. Jetzt hob er den Blick, und im gleichen Moment wandte Grim sich um.
Jakob war tot, das konnte Grim sehen. Seine Haut war grau, seine Augen gebrochen, Blut klebte an seiner Stirn. Doch er lächelte, als wäre alles in Ordnung, als wäre es gut so, wie es eben war, und seine Augen wurden klar. Er sagte kein Wort. Grim aber sprach zu ihm, lautlos und wie in Gedanken. Als er geendet hatte, fuhr er sich über die Augen. Auf einmal fühlte er sich seltsam leicht.
Wir sind frei,
sagte Jakob.
Wir Menschen. Ich habe mich entschieden — nicht du hast den Abzug gedrückt. Du trägst keine Schuld an meinem Tod. Ich hingegen ... ich habe eine Schuld auf mich geladen, die niemand abzahlen kann.
Mias Lachen
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