Grim
jetzt merkte sie, dass sie noch immer den Dolch in ihrer Hand hielt. Schweigend hielt sie dem Wolf die Waffe hin, doch er schüttelte den Kopf und lächelte zum ersten Mal auf eine Weise, die sein Gesicht vollkommen menschlich wirken ließ. Sanft griff er nach ihrer Hand, und als er ihre Finger um die Waffe schloss und sie mit rascher Geste herauszog, dass die Klinge in ihr Fleisch schnitt, spürte sie den Schmerz wie das Licht des Mondes auf ihrer Haut. Sie hörte die Stimme des Khranados, dunkel und kraftvoll sprach er Worte in einer ihr unbekannten Sprache, und sie fühlte, wie die Macht des Dolches nicht länger versuchte, ihre Magie zu verschlingen. Für einen Moment hielt er ihre Hand fest. Ihre Wunde schloss sich, ohne dass er einen Zauber gesprochen hätte, und dann hörte sie seine Worte. Sanft und rau wie sein Ruf strichen sie durch ihr Haar.
Lass sie nicht sehen, wer du bist , raunte er. Sie werden dich für diese Wahrheit hassen.
Kurz glitt der goldene Schein seiner Augen über ihr Gesicht und wärmte sie. Dann wandte er sich ab, und ehe sie noch etwas hätte erwidern können, kehrte er in sein Reich zurück und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Kühl ruhte Lyskians Blick auf ihr, als sie den schmalen Gang hinter der Tür hinaufgingen, doch sie sah ihn nicht an. Sie lief noch einmal mit dem Wolf durch den Wald, gemeinsam und frei. Ein Schatten legte sich auf ihre Miene, als sie daran dachte, dass sie vielleicht nicht mehr war als dies: ein einzelner Wolf, unerkannt und ungesucht, und dass ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft mit anderen Menschen möglicherweise von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein musste. Was, wenn es ihr ebenso erging wie ihm? Was, wenn sie ihr ganzes Leben lang auf der Suche sein würde, ohne jemals ans Ziel zu kommen?
Sie ließ das Licht des Portals über sich hinweggleiten, das am Ende des Ganges lag, und trat hinaus in einen Park. Sie spürte die Ascheflocken auf ihrer Haut, die von den umstehenden Bäumen herabfielen. Ihr Herz machte einen Satz, als ihr bewusst wurde, dass sie mitten in Prag im Park Kinského Zahrada standen und dass das Fluchfeuer gebannt worden war. Die Schreie aus der Ferne kamen aus steinernen Kehlen. Atemlos schaute sie Lyskian an. Sie beeilten sich, eine kleine Anhöhe hinaufzukommen, und kaum, dass sie die funkensprühenden Zauber sahen, die rings um die Prager Burg in die Nacht strömten, brach der Äußere Schutzwall in gleißenden Scherben zusammen.
Mia spürte ihr Herz im ganzen Körper. Grim hatte gesiegt, er hatte den Fluchzauber gebrochen und die Schattenflügler befreit, und nun … Sie fuhr sich über den Mund, als könnte sie ihre Gedanken so zu Worten formen, doch es war zwecklos. Alles, was sie fühlte, war das warme Gefühl, das ihre Glieder flutete, jetzt, da sie an Grim dachte, und sie musste lachen, als sie die Explosionen am Himmel sah, die wie Feuerregen auf sie herabfielen. Lyskian lächelte kaum merklich, jede Kälte war aus seinen Augen gewichen, und gemeinsam schauten sie hinauf zu den Farben, die wie Nordlichter über das Firmament flammten.
Mia fuhr zusammen, als das Schrillen ihres Piepers die Nacht durchdrang. Eilig zog sie ihn aus ihrer Tasche, und kaum, dass Jakobs Bild in der flackernden Lichtsäule auftauchte, krampfte sich ihr Magen zusammen. Blut rann ihm über die Stirn, seine Lippen zitterten, als er zu sprechen begann.
»Mia«, sagte er kaum hörbar. »Es ist etwas Schreckliches passiert.«
Kapitel
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