Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
womöglich gar mythische Dimensionen von Errettung, Selbstopferung und Heroismus angenommen? Maisie hat jener Abschnitt ihres Lebens tief geprägt; das Baby, das Mutter und Vater verloren hatte und ohne Kitty Riordins beherztes Eingreifen beinahe selbst ums Leben gekommen wäre. Jury fragte sich, ob Oliver Tynedale wohl ebenfalls seinen Anteil an diesem Mythos hatte.
»Wo waren Sie zwischen Mitternacht und acht Uhr morgens?«
»Vielleicht auf der anderen Seite des Flusses, um Simon zu erschießen?«
Er lächelte. »Wir müssen diese Frage allen stellen.«
»Werden wir denn alle verdächtigt? Werde ich verdächtigt? Was um alles in der Welt hätte ich denn für einen Grund ? Ich profitiere doch nicht von seinem Tod. Ich habe schon jetzt so viel Geld, dass es für ein Dutzend Leute reichen würde.«
Jury klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Tasche. »Ich bezweifle, dass das Motiv etwas mit Geld zu tun hat. Ich nehme an, hier hat jeder so viel, dass es für ein Dutzend Leute reichen würde.«
»Warum dann? Warum hat jemand Simon erschossen?« Jury starrte sie bloß an und wiederholte die Frage: »Wo waren Sie heute früh?«
12
Nach dem langen Stillsitzen und Reden wollte er sich etwas Bewegung verschaffen und teilte Barkins, dem Butler, mit, er würde ein wenig im Garten spazieren gehen und wäre dort zu finden, falls Detective Chief Inspector Haggerty anrufen sollte.
Es war früher Nachmittag, als er durch die Verandatür des Speisezimmers auf eine Terrasse trat und von dort auf einen Gehweg. Dieser verlief seitlich am Haus entlang, das viel tiefer gelegen war, als es von vorn den Anschein hatte. Auf einer Seite zog sich eine Säulenreihe entlang. Genau genommen handelte es sich um eine überdachte Kolonnade, über deren gesamte Länge hin diese weißen Säulen das weiche Sonnenlicht einfingen. Jury hatte nie der Schule der Peripatetiker angehört - er konnte beim Spazierengehen überhaupt nicht gut denken. Sehr gut gelang es ihm dagegen beim Rauchen, und nun hätte er gern eine Zigarette gehabt. Ein Jahr und neun Monate und zwei Wo chen - Du liebe Zeit, und da gierst du immer noch nach einem Glimmstängel.
In etwa sieben Metern Entfernung befand sich auf der anderen Seite des Rasens eine Reihe Zypressen, die den Gartenpfad innerhalb der hohen Steinmauer säumten. Dieser baumbestandene Pfad verlief parallel zu den weißen Säulen, und dazwischen stand die Statue eines Kindes, das die Hand zu einer Ente hinunter streckte. Als er Stimmen hörte, sah er zwischen den Säulen und Bäumen hindurch dort jemanden, der ebenfalls spazieren ging. Nein, was er hörte, war nur eine Stimme. Er konnte die Worte nicht ausmachen. Die Zypressen, die wie graue Pfeiler wirkten, standen etwas versetzt zu den weißen Säulen so, dass es ihm beim Gehen vorkam, als stünden sie in den Lücken dazwischen. Zwischen Zypressen und Säulen hindurch konnte er auf diese Weise einen flüchtigen Blick auf die andere Person erhaschen, bei der es sich, wie er sodann feststellte, um ein kleines Mädchen handelte.
Vielleicht war es das Gespräch über Waterloo Bridge, das Jury dazu veranlasste, weiterzugehen und zwischen den Bäumen zu dem Kind hinüberzuschauen und dabei den kinematographischen Effekt des Ganzen zu genießen. Es war, als beobachtete er ein Weberschiffchen, das einen Wandteppich mit dem Bild eines Gartens webte. Sämtliche angedeuteten Elemente - die weißen Säulen, die Zypressen, das Mädchen, die Statue, er selbst - flössen zu einem großen Gesamtbild zusammen. Es gefiel Jury - es war ein wenig wie das Gefühl, das ihn manchmal überkam, wenn er einen Fall gelöst hatte, der ihm zuvor wie ein undurchdringliches Rätsel erschienen war.
Er hatte das Ende des überdachten Gangs erreicht, von dem zwei breite, flache Stufen zu einem Wasserbecken oder Teich hinunterführten. In dessen Mitte goss ein Mägdlein Wasser aus einem Krug. Als Jury das kleine Mädchen (warum hatte niemand von ihr gesprochen? War es eine Enkelin? Eine Urenkelin?) zwischen den Bäumen hervortreten sah, ließ er sich in die Hocke nieder und tat so, als wollte er seinen Schnürsenkel binden. Er wollte verhindern, dass sie von einem knapp einen Meter neunzig großen Polizisten eingeschüchtert wurde. Den Kopf gesenkt, begutachtete er den Schuh, als wäre dieser ebenso faszinierend wie der Wandteppich, den er soeben im Geiste gewoben hatte. Sie blieb stehen und beobachtete ihn.
Er hob den Kopf und rief in überraschtem Ton zu ihr hinüber: »Ach,
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