Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
er.
Seitlich befand sich eine Phalanx von Lampen, und über ihm werkelten ein paar Techniker an der riesigen Verstrebung, auf der Stahlbänder mit zwei, drei Dutzend Lampen nebeneinander angebracht waren. Die Arbeiter hockten so hoch oben, daß es gefährlich für jeden wirkte, der kein Trapezkünstler war. Die große Verstrebung befand sich an die sieben, acht Meter über der Bühne. Die Männer beendeten ihre Arbeit, kletterten herunter und gingen nach rechts ab. Jury konnte ein Stück Metalltreppe sehen, die zu den nicht zugänglichen Räumen im nächsten Stock führen mußte.
Einer der Roadies kam herein, stellte einen weiteren Verstärker ab und ging durch die Bühnentür rechts ab. Jury hatte draußen die Lieferwagen parken sehen.
Der einzige von der Truppe, der jetzt noch auf der Bühne war, schleifte ein Kabel hinter sich her und zog ein Mikrofon -es gab ihrer fünf - zur Bühnenmitte, vorn an die Rampe. Es war der Typ, den Mary Lee vom Getränkeautomaten verscheucht hatte. Er richtete das Mikrofon. Dann schirmte er die Augen mit der Hand ab und blickte zum hinteren Teil des Saals - Jurys erster Gedanke war, daß er jetzt rausgeworfen würde -, aber die Aufmerksamkeit des Burschen auf der Bühne galt anscheinend dem Mann am Mischpult. Der Toningenieur hob die Hand.
Der junge Mann holte eine Gitarre aus einem der Kästen, legte sich den Gurt um und begann mit der klassischen Einleitung zu einem spanischen Stück, das, soweit Jury wußte, von Segovia war.
Mary Lee hatte ihn nicht erkannt, und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als seine Bekanntschaft zu machen. Jury lauschte den Stakkati des Gitarristen und den Arpeggio-Läufen des Liedes und dachte bei sich, daß Anonymität gar nicht so schwer zu haben war. Der junge Mann da hatte ihr direkt gegenübergestanden, und sie, die sein Foto Tag für Tag vor Augen hatte, hatte nicht geschaltet. Selbst im Umfeld des Theaters, in dem er am nächsten Abend auftreten sollte, war er nicht erkannt worden. Vielleicht doch nicht so erstaunlich. Man sieht, was man erwartet, und man erwartet eben nicht, daß der Lead-Gitarrist einer berühmten Rockband seine Instrumente selber anschleppt oder sich bemüht, seine Coke selbst zu holen, wo ein halbes Dutzend Groupies - ganz zu schweigen von Mary Lee - für das Privileg, ihm zu holen, was immer er brauchte, auf Knien dorthin gekrochen wären. Und mit Sicherheit erwartete man nicht, ihn ohne die übrige Band zu sehen.
Und Starallüren hatte er auch nicht. Weder sein Äußeres (Jeans und verwaschenes Denimhemd) noch seine Bühnenpräsenz strahlten dergleichen aus. Gerade seine Bühnenpräsenz nicht (dachte Jury), wirklich bemerkenswert. Charlie Raine schien nichts von dem zu besitzen, was Wiggins und Macalvie als »Auftreten« bezeichnet hätten. Denn dieses klassische spanische Stück gewann seine Kraft nicht durch Charlie Raines Auftreten. Die Gitarre hätte genausogut ihn spielen können wie umgekehrt.
Das hier war schlichte Selbstentblößung. Er mußte exakter und präziser sein als mit der elektrischen Gitarre; die Noten lagen bloß wie Nervenenden.
Und sie schienen in der Luft zu kristallisieren; lange Noten, die sich aufschwangen und einschlugen wie ein Gewitter, wie Leuchtspurmunition, so daß sich Jury vorkam wie im Kreuzfeuer.
Die Musik war einschmeichelnd und ungestüm zugleich. Unversehens endete das Stück mit einer donnernden Folge von ausgehaltenen Akkorden.
Charlie Raine schlüpfte aus dem Gurt der Gitarre und legte sie wieder in ihren Kasten, knöpfte sich das Hemd auf und trocknete sich Gesicht und Haar mit dem Hemdzipfel ab. Dann holte er eine andere Gitarre aus dem zweiten Kasten und machte den Gurt daran fest. Sie war so weiß wie bleiche Gebeine und schien im Halbdunkel zu leuchten. Sodann befestigte er die herunterhängende Schnur an einer der vielen schwarzen Boxen, klimperte einige Akkorde und stimmte.
Jury stieß die nahegelegene Tür in der Nische gerade weit genug auf, daß er das Vestibül überblicken konnte. Keine Mary Lee in Sicht. Dann tauchte ihr Gesicht hinter dem Kassenfenster auf, sie wirkte eher verloren als gelangweilt. Jury ließ die Tür leise ins Schloß fallen, ging zum Automaten und warf Münzen ein. Er schnappte sich die Dose und drehte sich um. Mary Lees Kopf fuhr von ihrer Illustrierten hoch. Er winkte sie zu sich.
Sie verschwand vom Fenster, trat aus der Tür ihres »Büros« und bemühte sich wieder um Blasiertheit. »Immer noch da?«
»Los, kommen Sie.«
Sie
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