Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
drehte sie sich verdrießlich um und schwankte auf hohen Hacken zur Kasse, um abzuheben. Sie überlegte es sich aber noch einmal anders, kam rasch zurück und flüsterte: »Also, wenn Sie nur mal einen Blick reinwerfen wollen ... Aber nicht verraten, okay?« Sie zwinkerte ihm zu und eilte dem hartnäckigen Geräusch entgegen.
Ehe er an jenem Morgen mit der U-Bahn nach Hammersmith gefahren war, hatte er nach dem Exemplar von Time Out gesucht, das er schon am vergangenen Abend nicht hatte finden können, ehe er in Kleidern auf dem Sofa eingeschlafen war.
Jury wühlte sich durch unordentliche Stöße von Illustrierten und Papieren, drehte Kissen um, riß die Laken vom Bett, durchstöberte Schubladen und Schränke. Wenn man seine Wohnung vorher als Stall hatte bezeichnen können, so glich sie jetzt einem Schlachtfeld. Und dabei wußte er die ganze Zeit, daß er vergebens suchte; die Illustrierte hatte ganz oben auf dem Stapel da gelegen ... Carole-Anne ... natürlich.
Jury riß sich das Jackett vom Leib und zog sich einen dicken Pullover an, den dunkelbraunen mit dem eingestrickten, schiefen Elch. Ein Geschenk von Carole-Anne, die sich Mühe gab, ihn - bekleidungsmäßig - in dem Maß herunterzumachen, in dem sie Mrs. Wassermann aufputzte.
Und schon rannte Jury zur Haustür und die kleine Treppe zu Mrs. Wassermanns Souterrainwohnung hinunter.
Sie öffnete beim ersten Klopfen und warf die Hände hoch, als hätte er sie gerade vor einer ganzen Diebesbande errettet. »Endlich, endlich sind Sie wieder da.« Sodann faltete sie die Hände unter dem Kinn, als wollte sie ein Dankesgebet zum Himmel schicken.
Aber diese Mrs. Wassermann war nicht mehr die, die er vor wenigen Tagen verlassen hatte. Ihr graues Haar war kraus, eine neue Frisur, aber keine besondere Verbesserung gegenüber ihrem vertrauten, adretten Nackenknoten. Offenbar hatte Carole-Anne seine Wohnung gebrandschatzt und Mrs.
Wassermann durch die Friseursalons gescheucht. Doch er lächelte nur und machte ihr ein Kompliment über ihre Dauerwelle.
»Nein, nein. Keine Dauerwelle, Mr. Jury. Das ist mit dem Kreppeisen gemacht.«
»Wie bitte?«
»Mit dem Kreppeisen. Sassoon. Die arbeiten nur mit Kreppeisen und Luftdusche.« Dabei bewegte sie die Hand langsam hin und her, um die Bewegungen des Haartrockners anschaulich zu machen. »Nicht mit der Bürste, o nein, Luftdusche. Sie legen viel Wert auf natürliches Haar.«
Jury lehnte sich gegen die Tür. »Sagen Sie, hat Carole-Anne auch eine Kreppeisensitzung gehabt? Oder eine Luftdusche?«
»O nein. Doch nicht bei ihrem Haar. Sassoon hat gesagt, wenn man so schönes Haar hat, sollte man nichts damit anstellen.« Mrs. Wassermann hörte sich an, als hätte Vidal höchstpersönlich um sie herumscharwenzelt.
»Aha. Könnte ich wohl den Ersatzschlüssel zur Wohnung unserer schönen Helena haben?«
»Natürlich, natürlich.« Sie ging zum Bücherregal. »Er liegt gleich hinter Mr. le Carré.«
Mrs. Wassermann benannte ihre Bücher immer mit den Nachnamen der Autoren. Miss Austen. Mr. Dickens. Miss Krantz.
Sie gab ihm den Schlüssel, wollte jedoch im Gegenzug keinerlei Erklärung von ihm haben. Mrs. Wassermann hatte eine große Tugend; sie steckte nie die Nase in anderer Leute Dinge. Keiner achtete die Privatsphäre anderer Menschen so wie sie. Jammerschade, daß sich Miss Palutski davon keine Scheibe abschnitt.
»Wenn sie doch bloß nicht meine Wohnung als Flughafen-Lounge für Zwischenstopps benutzen würde.«
»Ach, aber Sie wissen doch, sie kann sich kein Telefon leisten.«
»Warum auch? Sie hat ja meins. Und wenn sie bloß nicht immer Dinge mitnehmen würde. Ich hatte ein Exemplar von Time Out, und das brauche ich.«
»Ach, das. Das ist hier ...« Sie enteilte. »Carole-Anne findet, ich müßte wissen, was in der Stadt so alles los ist.«
Ihm schwante nichts Gutes. »Danke, Mrs. Wassermann.«
»Und nicht zu böse auf Carole-Anne sein, Mr. Jury. Sie wissen doch, sie steht in der letzten Zeit sehr unter Stress.«
Jury hatte den Fuß schon auf der ersten Stufe, drehte sich aber noch einmal um. »Ja, als ich wegführ, war sie kurz vorm Durchdrehen.«
»Sie läßt die Ohren hängen, Mr. Jury. Sie sollten sich um sie kümmern, sie aufheitern. Das kommt wohl davon, daß sie die Rolle nicht gekriegt hat, für die sie so geschuftet hat.«
Carole-Anne hatte sich hinsichtlich ihrer >Rolle< nicht in die Karten schauen lassen, außer daß sie tüchtig blinde Frau geübt hatte. Weißer Stock, Geklopfe, Gesicht etwas
Weitere Kostenlose Bücher